Parlamentskorrespondenz Nr. 865 vom 25.07.2023

Sektenbericht: Multiple Krisen als Auslöser von Ängsten und Nährboden für diverse Verschwörungstheorien

Wien (PK) – Da die religiöse und weltanschauliche Landschaft seit längerer Zeit einem raschen Wandel unterworfen ist, war die Bundesstelle für Sektenfragen auch im letzten Jahr mit einer breiten Palette an Themen konfrontiert, ist dem aktuellen Tätigkeitsbericht zu entnehmen (III-968 d.B.). Waren es ab 2020 bis 2021 vor allem die Sorgen um die Gesundheit, die die Menschen bewegten, dominierte 2022 die Angst vor einem Weltkrieg, dem Einsatz von Atomwaffen, einem Reaktorunfall in der Ukraine, einem Blackout, Energieversorgungsengpässen, hoher Inflation und vor einer Wirtschaftskrise. Konfrontiert waren die Mitarbeiter:innen zudem mit Fragestellungen rund um Pyramidensysteme, fragwürdige Coaching-Angebote, verdeckte Missionierungen, sexistische Social-Media-Auftritte oder Problemen im Zusammenhang mit der Szene der Staatsverweigerer:innen. Dennoch stand auch 2022, wie die beiden Jahre zuvor, noch deutlich im Zeichen der Coronavirus-Pandemie. Besonders die im November 2021 angekündigte Impfpflicht wurde sehr kontroversiell diskutiert, was in der Arbeit der Bundesstelle vor allem im Zusammenhang mit dem Thema Verschwörungstheorien sichtbar wurde.

In eigenen Kapiteln ausführlicher dargestellt werden die sogenannte Anastasia-Bewegung, deren Anhänger:innen sich an den Inhalten einer sozial-utopischen Buchreihe eines russischen Autors orientieren, sowie die "IM Mastery Academy", die eine problematische Form des Multi Level Marketings darstellt. Um einen besseren Einblick in die konkrete Arbeit der Bundesstelle zu geben, werden im 58 Seiten umfassenden Bericht – unter strikter Wahrung des Datenschutzes – auch noch zahlreiche ausgewählte "Fallbeispiele" aus der Praxis präsentiert.

Zentrale Servicestelle bietet bei unveränderter Personalsituation umfangreiches Beratungs- und Hilfsangebot

Die im Bundeskanzleramt angesiedelte Bundesstelle für Sektenfragen, an die sich im Jahr 2022 insgesamt 2.013 Personen gewandt haben, steht seit 1998 als zentrale Service- und Anlaufstelle allen Privatpersonen und Institutionen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen zur Verfügung. In ihren Aufgabenbereich fallen nicht nur Informations- und Beratungsleistungen, sondern auch Öffentlichkeits- und Medienarbeit sowie Vernetzungs- und Weiterbildungsaktivitäten. Das Spektrum der an sie herangetragenen Themen ist dabei sehr breit gefächert und reicht von alternativen religiösen Bewegungen über Esoterik und spezifischen Angebote zur Lebenshilfe bis hin zu fundamentalistischen Strömungen, Guru-Bewegungen und Verschwörungstheorien. Nicht in den Zuständigkeitsbereich der Bundesstelle fallen die gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften.

Im Rahmen der umfassenden Informations- und Beratungstätigkeit werden Glaubensfragen oder religiöse Vorstellungen nicht beurteilt oder bewertet, wird im Bericht betont. Im Mittelpunkt stehe immer die Frage nach möglichen Gefährdungen für ein Individuum oder eine Personengruppe, die von "Sekten" oder "sektenähnlichen Aktivitäten" ausgehen können. An die Bundesstelle wenden sich in der Regel Menschen dann, wenn sie in ihrem privaten oder beruflichen Umfeld bei Familienangehörigen oder Kolleg:innen eine "sektenartige" Dynamik beobachten, eine Gemeinschaft auffallend missionarisch für sich wirbt bzw. deren Mitglieder sich innerhalb kurzer Zeit stark verändern. Im Jahr 2022 führte dies zu 431 Beratungsfällen bzw. 1.643 Kontakten.

Auch die Medien- und Öffentlichkeitsarbeit hat sich in den vergangenen Jahren zu einem wichtigen Arbeitsschwerpunkt entwickelt. Es zeigte sich erneut, wie sehr die Bundesstelle als kompetente Ansprechpartnerin sowohl im Print-, Radio- als auch im TV-Bereich zu Recherche- und Interviewanfragen wahrgenommen wird. Allein im Jahr 2022 wurden Informationsanfragen von 124 Journalist:innen bearbeitet. Die Bundesstelle leitete zudem eine Arbeitsgruppe zu Verschwörungstheorien im Netzwerk Extremismusprävention und Deradikalisierung (BNED), die sich mit der Situation in Österreich und der Erarbeitung von Handlungsempfehlungen befasst.

Weiterhin unverändert ist der knappe Personalstand der Bundesstelle. Das multiprofessionelle Team besteht ebenso wie in den Vorjahren aus fünf Mitarbeiter:innen, wobei nur zwei vollzeit- und drei teilzeitbeschäftigt sind.

Neue Themenschwerpunkte aufgrund des Angriffskrieges von Russland auf die Ukraine hinzugekommen

Die Themen rund um die Coronakrise spielten im Jahr 2022 zwar noch immer eine wichtige Rolle, allerdings nahmen der Verlauf der Pandemie sowie die sukzessive Rücknahme der Schutzmaßnahmen den einschlägigen Diskussionen ihre Schärfe. Es wurde aber gleichzeitig sichtbar, dass die meisten Menschen, die verschwörungsgläubig sind, ihre Meinungen auch durch intensive Diskussionen und andere Formen der Intervention nicht ändern, resümierten die Autor:innen. In vielen sowohl persönlichen als auch telefonischen Beratungsfällen wurde darauf hingewiesen, dass es nur in seltenen Fällen zu einer Annäherung zwischen Andersdenkenden gekommen sei, meist wurde als Deeskalationsstrategie über das Thema einfach weniger gesprochen. Viele Menschen berichteten über eine Reduktion der Kontakte oder auch komplette Kontaktabbrüche.

Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und dessen internationale Folgen seit Februar 2022 sorgten dann für neuen Stoff für Verschwörungstheorien, die im Berichtsjahr wieder einen wesentlichen Anteil an den Anfragen an die Bundesstelle hatten. Es wurde unter anderem behauptet, dass der Angriff Russlands gar nie passiert sei, sondern es sich um eine ukrainische Inszenierung handle. Die Verschwörungsgläubigen suchten nach Begründungen dafür, warum das Agieren der russischen Führung zumindest gerechtfertigt, wenn nicht sogar zwingend notwendig sei. Vorhandene Verschwörungsängste wurden – und das nicht nur bei jenen, die sich aufseiten Russlands stehen – durch die Angst vor Krieg, Wirtschaftskrise und Engpässen in der Energieversorgung noch verstärkt.

Als genereller Trend war zu beobachten, dass Menschen, die zuvor coronabezogene Verschwörungstheorien geglaubt haben, auch die Verschwörungstheorien rund um die Ukraine für wahr hielten. Außerdem wandten sich die Personen zunehmend neuen Themen wie etwa dem Transhumanismus zu. Überdies wurden Maßnahmen gegen den Klimawandel in Frage gestellt oder sogar vehement bekämpft, Nachhaltigkeitsprojekte – etwa der Vereinten Nationen – misstrauisch beäugt, weil eine verdeckte, bösartige Absicht dahinter vermutet wird. Allgemein sei zu beobachten, dass die antisemitische Hetze, wie sie vielen Verschwörungserzählungen eigen ist, nun auch um einschlägige Narrative rund um LGBTIQ+-Personen ergänzt wird.

Anastasia-Bewegung: Problematische Aspekte von Demokratiefeindlichkeit bis hin zu Vernetzung in die rechtsextreme Szene

Parallel zum gesteigerten Beratungsbedarf stellte die Sektenstelle im Jahr 2022 auch ein relativ großes Interesse der österreichischen Medien an der Anastasia-Bewegung fest, heißt es im Bericht. Diese nimmt Bezug auf die von Wladimir Megre verfasste zehnbändige Buchreihe, in der fiktive Begegnungen mit Anastasia, einer jungen, blonden in Sibirien lebenden Frau, die übersinnliche Kräfte besitzt und über einen Schatz an Wissen und Weisheit verfügt, beschrieben werden. Wer sich an ihre Anweisungen hält, könne ebenfalls diese höhere Stufe der Existenz erreichen. Besonders der den Werken inhärente Antisemitismus, die Anknüpfungsfähigkeit zu aktuellen Verschwörungstheorien (z.B. prorussische Desinformationskampagnen) sowie die realweltliche Umsetzung in Form von Familienlandsitzen fanden medial Beachtung.

Als besonders problematisch werden zudem die Auslegung der "Lehre" in Form von rassistischen Denkmustern ("Einzigartigkeit der wedischen Rasse") sowie die daraus abgeleiteten pädagogischen Konzepte bewertet, die in vielen Fällen dazu führen, dass Kinder aus dem regulären Unterricht genommen werden. Ein wiederkehrendes Motiv in der Anastasia-Buchreihe seien die demokratiefeindlichen Tendenzen, die weiterhin beobachtet werden sollten. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund der vor allem in Deutschland festgestellten Vernetzung von Anhänger:innen in die rechtsextreme Szene. Auf jeden Fall lasse sich festhalten, dass die Anastasia-Bewegung nicht als ein naturverbundener Lesekreis verharmlost werden dürfe, betonen die Autor:innen, man müsse die Aktivitäten der Akteur:innen, auch im digitalen Raum, im Auge behalten.

IM Mastery Academy: "Reichtum ohne Schulabschluss"

Als Multilevel Marketing (MLM) wird eine prinzipiell etablierte, seriöse Art des Direktvertriebs bezeichnet, die jedoch auch in problematischer Form auftreten könne. Schon seit einigen Jahren werden an die Bundesstelle Anfragen zu diesem Thema herangetragen, wobei es oft um die Aktivitäten der IM Mastery Academy gehe. Bei derartigen Strukturvertrieben, bei denen nicht nur auf den Verkauf von Produkten, sondern vor allem auf das Anwerben neuer Mitglieder abgezielt und hohe Einkommen in kurzer Zeit versprochen werden, handle es sich um Pyramiden- und Schneeballsysteme. Angesprochen werden vor allem junge, teils minderjährige Personen, die sich großen Reichtum versprechen und manchmal sogar die Schule abbrechen. Alternative Methoden, um an Wohlstand zu kommen, die über die sozialen Medien an sie herangetragen werden, würden vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenen besonders verheißungsvoll erscheinen. Auf Plattformen wie etwa Instagram stoßen sie auf entsprechende Angebote. Entweder weil manche Influencer:innen dort durch ihren glamourösen Lebensstil auffallen und auf Nachfrage von Online-Finanzakademien wie der IM Mastery Academy berichten, oder auch weil sie direkt angesprochen werden.

Die Firma "Empire", laut Selbstdarstellung der größte deutsche Ableger der IM Mastery Academy, ist nach eigenen Angaben "mit 400.000 Schülern in 130 Ländern" die "größte E-Learning Plattform auf der Welt, deren Vision es ist, langfristig 1.000.000 Menschen erfolgreich ins Unternehmertum und Investortum zu verhelfen". Auf den ersten Blick mag das Angebot von IM Mastery Academy attraktiv und die Plattform dahinter etabliert wirken, räumen die Autor:innen ein. Doch Verbraucherschutz und Finanzaufsichtsbehörden zeigen sich alarmiert und Angehörige von Teilnehmer:innen und ehemaligen Mitgliedern sprechen gemäß Medienberichten von "Gehirnwäsche" und "sektenähnlichen Techniken". Das Unternehmen IM Mastery Academy, das 2013 in New York vom ehemaligen Bauarbeiter Christopher Terry gegründet wurde, will Interessierten helfen, neben dem Handel mit Kryptowährungen vor allem in den höchst riskanten Devisenhandel einzusteigen. In diesem Bereich laufe man besonders Gefahr, auf betrügerische Angebote zu stoßen, da sie keiner Regulierung – z.B. durch die österreichische Finanzaufsichtsbehörde – unterliegen. Das Konzept der Anlageberatung in Form von Online-Finanzakademien wie der IM Mastery Academy und die Probleme, die damit einhergehen, werden wohl noch eine Weile bestehen, urteilen die Autor:innen. Die nationalen Behörden hätten oft keine rechtliche Handhabe und die Gesetzgebung der Europäischen Union in diesem Bereich sei ebenfalls zu schwach.  

Derartige Verkaufs- und Vertriebsmodelle fanden ihren Niederschlag auch in den im Bericht dargestellten Fallbeispielen aus der Praxis. So wandte sich etwa ein besorgter Vater an die Sektenstelle, da sein 17-jähriger Sohn sehr viel Zeit im Internet und dabei vor allem mit den Angeboten eines Online-Marketing-Unternehmens verbracht hat. Nach Bezahlung der Schulungsunterlagen betrachtete er sich als "Mitarbeiter in Ausbildung" dieser Firma, er nahm nicht nur an zahlreichen Online-Schulungen, sondern auch bei realen Treffen in einem Büro teil. Nicht nur er versuchte nun auf diese Weise viel Geld zu verdienen, sondern auch zahlreiche Mitschüler:innen sowie bei manchen auch deren Eltern. Mit Einwilligung der Obsorgeberechtigten bzw. mit dem Erreichen der Volljährigkeit sei es das Ziel, zehn Personen für das Unternehmen anzuwerben, ab der elften Person bekomme man ein Honorar pro Anwerbung. Die Firma biete Fortbildungen an, mit deren Strategien es möglich sein solle, großen Wohlstand zu erlangen. Dem Sohn erscheine es viel einfacher und interessanter, auf diese Art und Weise ein erfolgreiches Leben in Wohlstand zu führen als über langwierige Ausbildungen. (Schluss) sue