Parlamentskorrespondenz Nr. 541 vom 29.05.2024

Sektenstelle blickt auf 25 Jahre ihres Bestehens zurück und setzt neue Schwerpunkte

Wien (PK) – Mit einer Reihe von Neuerungen kann die seit 25 Jahren bestehende Bundesstelle für Sektenfragen aufwarten, die ihren Tätigkeitsbericht für das Jahr 2023 dem Parlament übermittelt hat. Neben dem Wechsel in der Geschäftsführung, der Erhöhung des Budgets und der umfassenden Reorganisation des IT-Bereichs wurde vor allem durch die Aufnahme neuer Mitarbeiter:innen ein Veränderungs- und Modernisierungsprozess eingeleitet. Inhaltlich war dieser insbesondere durch den Start des Projekts "Verschwörungstheorien" gekennzeichnet. Im Jänner 2023 wurde die langjährige Mitarbeiterin und Expertin Ulrike Schiesser schließlich offiziell zur Leiterin der Bundesstelle für Sektenfragen ernannt.

Wie schon bisher waren die Mitarbeiter:innen auch 2023 mit einer breiten Palette an Themen konfrontiert, wobei eine Zunahme der Anfragen in Bezug auf den esoterischen Online-Coaching-Markt inklusive eines geschlechterstereotypen Targetings feststellbar war, ist dem Bericht zu entnehmen. Nicht minder bedeutsam sei der deutliche Anstieg der Aktivitäten der Organisation Scientology, wobei der Fokus auf Kinder und Jugendliche gelegt wurde.

Die während der COVID-19-Pandemie zunehmende Bereitschaft von Eltern, Kinder vom regulären Unterricht abzumelden und zu Hause zu unterrichten, veranlasste die Bundesstelle zudem zur Erstellung des Sonderberichts "Abschottung im Zusammenhang mit häuslichem Unterricht". Im Sinne des Kindeswohls dürfe der häusliche Unterricht kein Schlupfloch für extremistische Ideologien und demokratiefeindliche Bewegungen werden, die damit Parallelgesellschaften aufbauen, lautete die zentrale Schlussfolgerung.

Um einen besseren Einblick in die konkrete Arbeit der Bundesstelle zu geben, werden im 78 Seiten umfassenden Bericht – unter strikter Wahrung des Datenschutzes – auch noch zahlreiche ausgewählte "Fallbeispiele" aus der Praxis präsentiert (III-1166 d.B.).

Zusätzliche Mitarbeiter:innen, moderne IT und neue Schwerpunkte

Die im Bundeskanzleramt angesiedelte Bundesstelle für Sektenfragen, die im Jahr 2023 insgesamt 1.443 Kontakte zu verzeichnen hatte, steht seit 1998 als zentrale Service- und Anlaufstelle allen Privatpersonen und Institutionen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen zur Verfügung. In ihren Aufgabenbereich fallen nicht nur Informations- und Beratungsleistungen, sondern auch Öffentlichkeits- und Medienarbeit sowie Vernetzungs- und Weiterbildungsaktivitäten. Das Spektrum der an sie herangetragenen Themen ist dabei sehr breit gefächert und reicht von alternativen religiösen Bewegungen über Esoterik und spezifischen Angeboten zur Lebenshilfe bis hin zu fundamentalistischen Strömungen, Guru-Bewegungen und Verschwörungstheorien. Aber auch Probleme und Fragen in Bezug auf die Szene der Staatsverweigerer oder zu Pyramiden- bzw. Schneeballsystemen werden an die Bundesstelle herangetragen.

Nicht in den Zuständigkeitsbereich der weisungsfreien und konfessionell unabhängigen Bundesstelle fallen die gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften. Im Rahmen der umfassenden Informations- und Beratungstätigkeit werden Glaubensfragen oder religiöse Vorstellungen nicht beurteilt oder bewertet, wird im Bericht betont. Im Mittelpunkt stehe immer die Frage nach möglichen Gefährdungen für ein Individuum oder eine Personengruppe, die von "Sekten" oder "sektenähnlichen Aktivitäten" ausgehen können.

An die Bundesstelle wenden sich in der Regel Menschen dann, wenn sie in ihrem privaten oder beruflichen Umfeld bei Familienangehörigen oder Kolleg:innen eine "sektenartige" Dynamik beobachten, eine Gemeinschaft auffallend missionarisch für sich wirbt bzw. deren Mitglieder sich innerhalb kurzer Zeit stark "verändern". Im Jahr 2023 führte dies zu 404 Beratungsfällen bzw. 1.443 Kontakten. Am häufigsten waren Anfragen zu Gemeinschaften mit christlichem Hintergrund (82), gefolgt von Themen aus dem Bereich der Esoterik (71) und nicht näher zuordenbaren Angeboten mit "Sektenverdacht" (46).

Eine erfreuliche Entwicklung hat es im Berichtszeitraum im Personalbereich gegeben, zumal die Sektenstelle in den letzten Jahren über sehr knappe Ressourcen in diesem Bereich verfügt hat. Durch die Aufnahme von sechs neuen Mitarbeiter:innen (fünf Teilzeitkräfte und eine Praktikantin für drei Monate) erhöhte sich der Personalstand des multiprofessionellen Teams auf durchschnittlich acht Bedienstete (mit einem Vollzeitäquivalent von 4,93).

Schwerpunkte der Arbeit: Medien, Fortbildungen und Arbeitsgruppen

Auch die Medien- und Öffentlichkeitsarbeit hat sich in den vergangenen Jahren zu einem wichtigen Arbeitsschwerpunkt entwickelt. Es zeigte sich erneut, wie sehr die Bundesstelle als kompetente Ansprechpartnerin sowohl im Print-, Radio- als auch im TV-Bereich zu Recherche- und Interviewanfragen wahrgenommen wird. Allein im Jahr 2023 wurden Informationsanfragen von 96 Journalist:innen zu 44 unterschiedlichen Gemeinschaften bearbeitet. Die Sektenstelle nahm zudem an 106 Vernetzungs- und Austauschtreffen teil, leistete Beiträge zu Tagungen und Fortbildungen und veröffentliche Fachartikel und Online-Tools in Kooperation mit dem europäischen RAN-Netzwerk (Radicalisation Awareness Network).

Seit 2021 leitete die Bundesstelle die Arbeitsgruppe "Verschwörungstheorie" im Bundesweiten Netzwerk Extremismusprävention und Deradikalisierung (BNED). Außerdem engagieren sich die Mitarbeiter:innen der Sektenstelle im Rahmen der Arbeitsgruppen "Antidemokratische Strömungen", "Antifeminismus und Queerfeindlichkeit" sowie jener der Dokumentationsstelle für antisemitische Vorfälle, die im Mai 2022 im Bundeskanzleramt eingerichtet wurde. Von der Bundesstelle selbst wurde die Arbeitsgruppe "Online-Monitoring" ins Leben gerufen, an der Vertreter:innen des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands und der Beratungsstelle Extremismus und fairplay teilnehmen.

Sektenstelle zieht Bilanz: 113.300Gesamtkontakte in 25 Jahren

In den Berichtszeitraum fiel auch die Organisation der Tagung "25 Jahre Bundesstelle für Sektenfragen – Entwicklungen, Herausforderungen und Perspektiven". Die Autor:innen weisen darauf hin, dass ein Grund für die Einrichtung der Bundesstelle die Häufung von Gruppenselbstmorden, Tötungsdelikten und Anschlägen im Kontext von Gemeinschaften in den 90er Jahren war. Als Beispiele führen sie etwa den Giftgasanschlag der Gruppe Aum Shinrikyo in der Tokioter U-Bahn oder die Todesfälle um die Gemeinschaft der "Sonnentempler" an.  

Im Laufe der Jahre konnte dann beobachtet werden, dass die großen Gemeinschaften an Einfluss verloren haben und sich eine esoterische Szene mit vielen Einzelanbietern etabliert hat. Ab dem Jahr 2014 entwickelte sich das Thema der Staatsverweigerer zu einem Arbeitsschwerpunkt, seit der Pandemie war dann ein erheblicher Aufschwung an Verschwörungstheorien feststellbar. Derzeit seien die Coaching-Angebote stark im Kommen.

Insgesamt wurden im letzten Vierteljahrhundert 12.900 Beratungsfälle bearbeitet und 38.000 Personen betreut. Mit über 113.300 Gesamtkontakten kann die Sektenstelle somit auf eine imposante Bilanz zurückblicken.

Neues Online-Monitoring-System zu Verschwörungstheorien gestartet

Seit dem Jahr 2020 bzw. seit Beginn der Pandemie zählten Verschwörungstheorien zu den dominanten Themen der Medienberichterstattung im Arbeitsbereich der Bundesstelle, was sich auch nach dem Ende der Corona-Maßnahmen am 1. Juli 2023 kaum geändert hat, ist dem Bericht zu entnehmen. Auch wenn die Sektenstelle schon seit ihrer Einrichtung mit diesem Phänomen befasst ist, so wiesen die Entwicklungen in den letzten Jahren eine alarmierende Präsenz und Verbreitung auf. Aus diesem Grund wurde im Vorjahr ein zweijähriges Forschungsprojekt gestartet, mit dem Ziel, eine erweiterte Wissensbasis und ein besseres Verständnis der aktuellen Entwicklungen im Bereich Verschwörungstheorien im digitalen Raum zu erlangen. Ein erster Bericht dazu wurde bereits veröffentlicht.

Um die Vernetzung mit nationalen und internationalen Expert:innen zu intensivieren, wurde die "Arbeitsgruppe Online-Monitoring" eingerichtet. Im Zuge des Aufbaus des Systems konzentrierten sich die Mitarbeiter:innen  auf die Entwicklung von Erhebungs- und Auswertungsmethoden für den Instant-Messaging-Dienst Telegram, der als zentrale Plattform für die Verbreitung von Verschwörungstheorien im deutschsprachigen Raum angesehen werden kann und daher priorisiert wurde. Mit diesem Schwerpunkt befasste sich ein erster Monitoring-Bericht, dessen Ergebnisse bereits veröffentlicht wurden. Untersucht wurden dabei ausschließlich öffentliche Kanäle (insgesamt 287) der österreichischen COVID-19-Protestbewegung auf Telegram analysiert.

Es wurde festgestellt, dass die Struktur des österreichischen Telegram-Netzwerks der COVID-19-Protestbewegung die Heterogenität des Publikums bei den Großdemonstrationen gegen staatliche Schutzmaßnahmen widerspieglt. Der Protest vereinte sowohl auf der Straße als auch im digitalen Raum Menschen aus unterschiedlichen ideologischen Milieus. Besorgniserregend sei jedoch, dass es rechtsextremen und verschwörungstheoretischen Akteuren teilweise gelungen sei, die Protestbewegung für sich zu vereinnahmen. Dies betreffe nicht nur den organisierten Rechtsextremismus, sondern auch die reichweitenstarken Kanäle der "alternativen Medien".

Fallbeispiele aus der Praxis

Die psychosoziale Beratung und Begleitung von betroffenen Personen ist ein wesentliches Betätigungsfeld der Bundesstelle, bei der die im Bericht angeführten Schwerpunkte ihren Niederschlag finden. So wandte sich etwa eine Frau an die Sektenstelle und berichtete über einen Vorfall, der ihren 20-jährigen Neffen betrifft. Dieser hätte 400 € für Coaching ausgegeben und würde aktuell überlegen, den nächsten Level, ein kostenintensives Abo, zu buchen. Sein Ziel wäre Reichtum und Erfolg. Die Anbieter versprechen ein hohes Einkommen und einen exklusiven Lifestyle.

In einem weiterem Fall kontaktierte ein Sozialarbeiter die Sektenstelle, der sich um einen vom ihm betreuten Klienten Sorgen machte. Dieser junge Mann, Impf- und Maskengegner, verbreite Verschwörungstheorien und halte sich zudem an eine exzessive vegane Diät, durch die er viel Gewicht verloren hat. Außerdem konsumiere der junge Mann ein seltsames Präparat, das innere Reinigung versprechen würde. Auf Kritik an seiner Lebensform reagiere er ablehnend und aggressiv.

Einer Lehrerin wiederum war aufgefallen, dass ein Schüler von ihr seltsam wirke und wenig soziale Kontakte habe. Er feiere weder Geburtstage noch Fasching und dürfe bestimmte Bücher nicht lesen. Auch der Verzicht auf Süßigkeiten und sonstige Vergnügungen wurde von den Eltern verlangt. Einer bestimmten Religionsgemeinschaft könne sie dieses Verhalten nicht zuordnen, doch gebe es Hinweise auf einen christlichen Hintergrund.

Eine Person wandte sich verzweifelt an die Bundesstelle, da sie der Überzeugung war, dass ihr Partner an ein dubioses Angebot geraten sei. Dieser hat ein E-Mail erhalten, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass er von einem mächtigen Geheimorden auserwählt ist. Ein "Großmeister" hätte ihn eingeladen, Mitglied einer globalen Elite zu werden und er könne zahlreiche Vorteile erhalten wie ein Haus, ein Auto und monatliche hohe Geldbeträge. Um beizutreten, müsse er aber eine Aufnahmegebühr zahlen. Sie hätte Nachrichten gefunden, wo er überlegt, wie er einen Kredit für einen mittleren fünfstelligen Betrag aufnehmen könnte. (Schluss) sue