Parlamentskorrespondenz Nr. 902 vom 11.09.2024
Antisemitismuskonferenz: Schwierige Situation für jüdische Gemeinden in Europa
Wien (PK) – Die aktuelle Situation der jüdischen Gemeinden in Europa bildete den zweiten thematischen Schwerpunkt der heutigen internationalen Antisemitismuskonferenz, zu der Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka Vertreter:innen aus rund 18 Staaten nach Wien geladen hat. Sowohl Yonathan Arfi, Präsident des Dachverbands jüdischer Organisationen in Frankreich, als auch Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, zeigten sich äußerst besorgt über die Entwicklungen in ihren Ländern, die seit dem 7. Oktober eine neue Eskalationsstufe erreicht hätten.
Für mehr Kooperation bei der Verfolgung von antisemitischen Angriffen setzte sich der Vorsitzende der Europäischen Rabbinerkonferenz Pinchas Goldschmidt ein, der unter anderem ein europäisches Register für radikalisierte Jugendliche forderte. Die jüdischen Student:innen müssten sich derzeit die schmerzvolle Frage stellen, ob es für sie noch eine Zukunft an den europäischen Universitäten gebe, stellte Emma Hallali (European Union of Jewish Students) mit großem Bedauern fest. Sie forderte mehr Unterstützung und konkrete Aktionen, um die Sicherheit der Studierenden zu garantieren.
Die Antisemitismusbeauftragte der Europäischen Kommission, Katharina von Schnurbein, gab einen Ausblick auf spezifische Maßnahmen der EU zur Bekämpfung des aktuellen Antisemitismus.
Arfi nimmt populistische Parteien in die Pflicht und warnt vor "atmosphärischen Antisemitismus"
Der Antisemitismus sei ein Zeichen für eine kranke und leidende Gesellschaft, deren demokratische Grundwerte unterminiert werden, meinte Yonathan Arfi (Präsident des Dachverbands jüdischer Organisationen in Frankreich). Frankreich, das eine der größten jüdischen Gemeinden aufweise, sei dabei keine Ausnahme. Auch wenn diese Entwicklung seit mehr als 20 Jahren feststellbar sei, so hätte sich die Lage nach dem Massaker vom 7. Oktober dramatisch verändert, hob Arfi hervor.
Allein in den letzten drei Monaten des Jahres 2023 seien die antisemitischen Vorfälle und Gewalttaten um über 1.000 % gestiegen. Dies habe dazu geführt, dass Jüd:innen keine sichtbaren Symbole mehr tragen oder ihre Identität verstecken würden. Verantwortlich für diesen "atmosphärischen Antisemitismus" seien nach Ansicht von Arfi auch die extremen politischen Gruppierungen, und zwar sowohl auf der linken als auch der rechten Seite. Populismus könne aber nie ein Bollwerk gegen Antisemitismus sein, warnte Arfi, der eine Schicksalsgemeinschaft von Jüd:innen und Demokratie ortete.
Schuster sieht jüdisches Leben in Deutschland bedroht
Auch Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, berichtete von einem "negativen Umbruch" und einem massiven Bedrohungsszenario seit dem brutalen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Dies sei umso betrüblicher, zumal das jüdische Leben in Deutschland nach der Shoah eine – hart erarbeitete - Erfolgsgeschichte gewesen sei. Nun würden 70 % der rund 100 jüdischen Gemeinden in Deutschland unter einem starken Besucherrückgang leiden. Auch viele öffentliche Veranstaltungen müssten abgesagt werden.
Ebenso wie in Frankreich hätte sich auch die politische Landschaft stark verändert und zu einem Erstarken von Parteien geführt, die man als "Feinde des jüdischen Lebens und der Demokratie" bezeichnen müsse. Gefahren gingen nach Auffassung von Schuster sowohl vom radikal islamistischen Terror als auch vom Faschismus aus, der nun wieder erstarke. Beide würden den europäischen Lebensstil bedrohen und müssten daher bekämpft werden, forderte Schuster. Er erinnerte zudem an die Warnung des Holocaust-Überlebenden Primo Levi, der gemeint habe, "was einmal passiert ist, kann immer wieder passieren".
Goldschmidt: Konkrete Vorschläge im Kampf gegen Antisemitismus
Pinchas Goldschmidt, der Vorsitzende der Europäischen Rabbinerkonferenz, schloss sich seinen Vorrednern an, wonach der Überfall vom 7. Oktober das größte antisemitische Massaker seit dem Holocaust dargestellt habe. Da Antisemitismus die Demokratien in ihren Grundfesten destabilisiere und einen Keil in die Gesellschaften treibe, müsse man sich fragen, wer ein Interesse daran haben könne. Rabbi Goldschmidt machte dafür nicht nur Russland, sondern auch den Iran verantwortlich und forderte die Aufnahme der Revolutionsgarden auf die EU-Liste der Terrororganisationen. Besondere Sorge bereitete ihm die Radikalisierung der Jugendlichen, weshalb es ein europäisches Register in diesem Bereich brauche. Seine dritte Forderung bezog sich auf eine bessere Überwachung der sozialen Plattformen und der Algorithmen, die unter Regierungskontrolle gestellt werden sollten.
Hallali: Jüdische Student:innen brauchen mehr Sicherheit und Unterstützung
Von einer alarmierenden Situation an Universitäten und Hochschulen sprach Emma Hallali, die Vorsitzende der European Union of Jewish Students. Diese Bildungseinrichtungen, die Orte des freien und kritischen Denkens, des Dialogs und des gegenseitigen Respekts sein sollten, hätten sich vor allem nach dem 7. Oktober 2023 zu einem Nährboden für Antisemitismus und Hass entwickelt. Dieser Angriff habe bereits bestehende Tendenzen nun für alle sichtbar gemacht.
Die zahlreichen physischen und psychischen Übergriffe auf jüdische Student:innen seien nicht nur absolut inakzeptabel, sondern würden auch ein Versagen der akademischen Einrichtungen aufzeigen, urteilte Hallali. Wenn etwa die Hamas als Widerstandsgruppe bezeichnet werde, dann müsse man sehen, dass das Problem noch größer sei als gedacht. Dennoch seien alle Hilferufe von Seiten der jüdischen Organisationen unbeantwortet geblieben, kritisierte die Studentenvertreterin. Die Kultur des Hasses dürfe keinesfalls als neue Norm akzeptiert werden. Um die Sicherheit von jüdischen Student:innen zu gewährleisten, sollten verpflichtende Programme und klare Strategien gegen Antisemitismus etabliert werden, schlug Hallali vor, die aber die gesamte Gesellschaft in dieser Frage gefordert sah.
Schnurbein: Antisemitismus ist eine Bedrohung für die Gesellschaft und die Demokratie
Antisemitismus sei eine Bedrohung nicht nur für Jüdinnen und Juden, sondern für die Gesellschaft und die Demokratie als Ganzes, erklärte Katharina von Schnurbein, die Beauftragte der EU-Kommission zur Bekämpfung von Antisemitismus und Förderung jüdischen Lebens. Antisemitismus könne nur zurück gedrängt werden, wenn auch andere Formen des Hasses entscheidend bekämpft würden. Jüdinnen und Juden würden aktuell überlegen, Europa zu verlassen, konstatierte sie die aktuelle Situation in den jüdischen Gemeinden. Es sei nun die Frage, wie die Staaten darauf reagieren und welche Maßnahmen sie setzen. Lediglich 21 der 27 EU-Mitglieder hätten nationale Strategien zur Bekämpfung von Antisemitismus vorgelegt. Ebenso seien erst 19 Sonderberichterstatter:innen nominiert worden. Es brauche aber diese Strukturen, betonte Schnurbein und forderte "Strategien in einem größeren Rahmen".
In der Bekämpfung von Antisemitismus sei es wichtig, sich bewusst zu sein, wer seine Verbündeten sind. Dabei sei die Trennlinie zwischen extremistischen und demokratischen Kräften zu ziehen, betonte Schnurbein. Hinsichtlich von Online-Extremismus verwies Schnurbein auf die Chancen durch den Digital Services Act der EU. Nach den Ereignissen des 7. Oktober seien mehrere Verfahren eingeleitet worden. Mit Verweis auf extremistische Vorfälle betonte Schnurbein, dass Hassreden nicht durch die Redefreiheit abgedeckt seien. Insgesamt gelte es, sowohl auf privater als auch öffentlicher Ebene Antisemitismus zu sehen und anzusprechen, forderte Schnurbein. Dies sei nicht immer einfach, aber notwendig.
Teilnehmer:innen für Schutz jüdischer Gemeinden und gegen Antisemitismus
In der anschließenden Debatte hatten die Konferenzteilnehmer:innen die Gelegenheit, ihren Standpunkt zur Situationen der jüdischen Gemeinden darzulegen und ihre nationalen Maßnahmen zu erläutern. So erklärte der italienische Parlamentsabgeordnete Benedetto Della Vedova, dass es die Aufgabe von Parlamenten sei, Verantwortung bei ihren Regierungen einzufordern. Es gelte, Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen, die Sicherheit von Juden und Jüdinnen zu gewährleisten.
Der Krieg Israels gegen die Hamas sei nicht die Ursache für die jüngste Zunahme des Antisemitismus in Europa, betonte der israelische Knesset-Abgeordnete Ron Katz. Dieser sei vielmehr wieder an die Oberfläche gespült worden.
Für Schweden sei es wichtig, jüdisches Leben zu stärken, sagte die schwedische Abgeordnete Alexandra Anstrell. Es gelte, gegen Antisemitismus vorzugehen und alle Staaten müssten hier mehr unternehmen.
Die Anstrengungen gegen Antisemitismus müssten "verdoppelt" werden, meinte auch der irische Mandatar Charles Flanagan. Beunruhigt zeigte er sich über die aktuellen antisemitischen Vorfälle und ihre Folgen.
Jüdische Gemeinden würden von vielen Seiten bedroht und Antisemitismus sei tief in der Gesellschaft verankert, erklärte die deutsche Bundestagsabgeordnete Marlene Schönberger. Man dürfe sich nicht täuschen lassen, wenn rechte Parteien vorgeben, gegen Antisemitismus vorgehen zu wollen. Verbündete gegen Antisemitismus müssten daher "weise" ausgewählt werden.
Deutliche Worte fand auch der Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses Ariel Muzicant. Jüdinnen und Juden hätten das Gefühl, in Stich gelassen zu werden und würden sich zunehmend fragen, ob sie eine Zukunft in Europa hätten. Es seien genug Worte gesagt worden, es brauche konkrete und rasche Maßnahmen, forderte Muzicant.
Die Vizepräsidentin des ungarischen Parlaments Márta Mátrai und der litauische Abgeordnete Giedrius Surplys erläuterten Maßnahmen zur Unterstützung der jüdischen Gemeinden und zur Bekämpfung des Antisemitismus in ihren Heimatländern. (Fortsetzung Antisemitismuskonferenz) sue/pst
HINWEIS: Fotos von der Antisemitismuskonferenz finden Sie im Webportal des Parlaments. Eine Aufzeichnung finden Sie nach Ende der Konferenz in der Mediathek des Parlaments.