Parlamentskorrespondenz Nr. 87 vom 03.03.2025
80 70 30: 30 Jahre Mitwirkung des österreichischen Parlaments an der EU-Gesetzgebung
Wien (PK) – Mit dem Beitritt zur Europäischen Union am 1. Jänner 1995 hat sich Österreich auch dafür entschieden, Kompetenzen und Souveränitätsrechte an die EU abzugeben. Über europäische Legislativvorhaben – in Form von EU-Richtlinien und EU-Verordnungen – verhandeln und entscheiden das Europäische Parlament sowie die jeweils zuständigen Regierungsmitglieder der EU-Länder (Rat) auf Basis von Vorschlägen der Europäischen Kommission. Allerdings hat auch das österreichische Parlament Mitwirkungsrechte im EU-Gesetzgebungsprozess. Zum einen können die Abgeordneten – und in eingeschränkter Form auch die Bundesrät:innen – dem zuständigen österreichischen Regierungsmitglied mit formellen Stellungnahmen eine bestimmte Verhandlungsposition vorgeben, zum anderen haben der Nationalrat und der Bundesrat die Möglichkeit, sich mit Mitteilungen und Subsidiaritätsrügen direkt an die Europäische Kommission zu wenden.
Wie oft diese Instrumente genutzt werden, bei welchen EU-Vorhaben sie das erste Mal zum Einsatz kamen und in welcher Form sich die beiden Kammern des österreichischen Parlaments sonst noch mit aktuellen EU-Fragen beschäftigen, das hat sich die Parlamentskorrespondenz für ihren dritten Beitrag anlässlich "30 Jahre EU-Beitritt Österreichs" angeschaut. Aufgrund der Länge ist dieser in zwei Teile gegliedert. Die Zahlen sind jedenfalls eindrucksvoll: 547 Sitzungen der EU-Ausschüsse mit mehr als 300 Beschlüssen, 57 Aktuelle Europastunden, Debatten über 259 EU-Jahresvorschauen und eine EU-Datenbank mit 950.000 Dokumenten gehören zur Bilanz.
Auch das eine oder andere Überraschende fördert die Rückschau zutage. Zum Beispiel dass bei den ersten beiden EU-Beschlüssen des Hauptausschusses 1995 die ÖVP-Abgeordneten nicht einheitlich votierten. Eine wichtige Rolle spielte damals auch ein Faxgerät.
Weitreichende Mitwirkungsrechte
Festgeschrieben sind die Mitwirkungsrechte des Nationalrats und des Bundesrats an der EU-Gesetzgebung insbesondere in den Artikeln 23e bis 23k der Bundesverfassung sowie in den Geschäftsordnungen der beiden Parlamentskammern. So wurden bereits mit dem EU-Beitritt 1995 weitreichende Informations- und Stellungnahmerechte der Parlamentarier:innen gegenüber der Regierung verfassungsrechtlich verankert (siehe dazu Parlamentskorrespondenz Nr. 52/2025). Später gesellten sich weitere Bestimmungen hinzu, wobei vor allem dem 2007 unterzeichneten und im Dezember 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon eine besondere Bedeutung zukommt.
Damals erhielten die nationalen Parlamente der EU-Mitgliedstaaten unter anderem das Recht, sogenannte Subsidiaritätsrügen nach Brüssel zu schicken, wenn sie der Meinung sind, dass ein Richtlinien- oder Verordnungsvorschlag der Europäischen Kommission die Kompetenzen der EU überschreitet bzw. die Materie aus ihrer Sicht sinnvoller nationalstaatlich, regional oder lokal geregelt werden sollte. Auch Klagen der nationalen Parlamente beim Europäischen Gerichtshof im Nachhinein wegen Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip sind seither möglich.
In Österreich wurden die neuen Rechte des Parlaments mit einem Begleitgesetz zum Vertrag von Lissabon in der Verfassung verankert. Es trat im August 2010 in Kraft und brachte dem Nationalrat und dem Bundesrat außerdem besonders starke Mitwirkungsrechte für den Fall, dass sich die EU-Länder darauf einigen, durch die Anwendung der sogenannten Brückenklausel (Passarelle) in einem bestimmten Politikbereich vom Einstimmigkeitserfordernis oder einem besonderen Gesetzgebungsverfahren abzugehen. Auch die Einführung neuer Eigenmittel zur Finanzierung der EU bedarf seither der ausdrücklichen Zustimmung des Nationalrats und des Bundesrats. Darüber hinaus wurde mit der begleitenden Verfassungsnovelle zum Lissabon-Vertrag die von der Regierung schon seit 2005 geübte Praxis, das Parlament zu Beginn eines Kalenderjahrs in Form von EU-Jahresvorschauen umfassend über aktuelle und zu erwartende EU-Vorhaben zu informieren, zu einer gesetzlichen Verpflichtung.
Ein weiteres wesentliches Mitwirkungsrecht fand im September 2012 im Zuge der Einführung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) Eingang in die Verfassung. In den Artikeln 50a bis 50d B-VG ist nunmehr geregelt, unter welchen Voraussetzungen der österreichische Vertreter bzw. die österreichische Vertreterin im ESM Finanzhilfen zur Unterstützung von Euro-Krisenländern zustimmen darf, insbesondere in Form von Darlehen, aber etwa auch durch Ankauf von Staatsanleihen. Dabei ist grundsätzlich eine Ermächtigung durch den Nationalrat bzw. durch den eigens dafür eingerichteten Ständigen Unterausschuss des Budgetausschusses in ESM-Angelegenheiten vorgesehen.
547 Sitzungen der EU-Ausschüsse, 107 Verhandlungsaufträge an die Regierung
Vorrangig nehmen aber die drei EU-Ausschüsse – der EU-Hauptausschuss und der EU-Unterausschuss für den Nationalrat sowie der EU-Ausschuss für den Bundesrat – die Mitwirkungsrechte des Parlaments in EU-Angelegenheiten wahr. Sie sind bisher zu insgesamt 547 Sitzungen zusammengetreten, wovon 187 Sitzungen auf den EU-Hauptausschuss, 149 Sitzungen auf den EU-Unterausschuss und 211 Sitzungen auf den EU-Ausschuss des Bundesrats entfallen.
Die EU-Ausschüsse haben zum einen die Möglichkeit, den jeweils zuständigen österreichischen Minister:innen eine bestimmte Verhandlungsposition bzw. ein bestimmtes Abstimmungsverhalten zu EU-Vorhaben vorzugeben, die im Falle der EU-Ausschüsse des Nationalrats in der Regel auch rechtlich bindend sind. Nur in Ausnahmefällen darf das jeweilige Regierungsmitglied davon abweichen, wobei der Minister bzw. die Ministerin zuvor die Abgeordneten konsultieren muss. 89 solcher Stellungnahmen gemäß Art. 23e B-VG haben die EU-Ausschüsse des Nationalrats bisher beschlossen. Davon entfallen 50 auf den EU-Hauptausschuss, der vor allem in den ersten Jahren nach dem EU-Beitritt Österreichs zahlreiche diesbezügliche Beschlüsse fasste, und 39 auf den EU-Unterausschuss. Dazu kommen 18 Stellungnahmen des EU-Ausschusses des Bundesrats, wobei bei EU-Materien, die Länderkompetenzen betreffen, wie zuletzt beispielsweise bei der EU-Renaturierungsverordnung, vorrangig die Bundesländer selbst zu bindenden Vorgaben berufen sind.
102 Mitteilungen an die EU und 37 Subsidiaritätsrügen
Zum anderen können die EU-Ausschüsse in Form von Subsidiaritätsrügen und sogenannten "Mitteilungen" an die EU-Kommission direkt am EU-Rechtssetzungsverfahren mitwirken. Hier hat der Bundesrat die Nase deutlich vorne. In den ersten Jahren nach Verankerung dieser Instrumente in den EU-Verträgen bzw. im österreichischen Recht gehörte er europaweit sogar zu jenen Parlamentskammern, die davon am häufigsten Gebrauch gemacht haben. Bis heute haben er bzw. stellvertretend für ihn der EU-Ausschuss 34 derartiger Subsidiaritätsrügen beschlossen und damit Einwände gegen Richtlinien- bzw. Verordnungsvorschläge der EU-Kommission zum Ausdruck gebracht. Dazu legte er in 71 Mitteilungen an die Europäische Kommission und andere EU-Organe seine Position zu einzelnen EU-Vorhaben dar, wobei derartige Mitteilungen vorrangig dem politischen Dialog dienen. Laufend kommt es in diesem Zusammenhang auch zu einem intensiven Austausch zwischen dem Bundesrat und den Bundesländern, insbesondere den Landtagen, die ihrerseits dem Bundesrat ihre Subsidiaritätsbedenken zu einem EU-Legislativvorschlag mittels Stellungnahmen mitteilen können.
Der EU-Unterausschuss des Nationalrats fasste demgegenüber bislang nur drei Subsidiaritätsbeschlüsse und schickte 27 Mitteilungen nach Brüssel. Dazu kommen 4 Mitteilungen des EU-Hauptausschusses.
Erste bindende Vorgaben: Opposition sah gelungene Premiere
Das erste Mal befasste sich der Hauptausschuss des Nationalrats fünfeinhalb Wochen nach dem EU-Beitritt Österreichs, am 7. Februar 1995, mit aktuellen EU-Vorhaben. Nur zwei Wochen danach, am 21. Februar, wurden die beiden ersten bindenden Stellungnahmen beschlossen. Zum einen erteilten die Abgeordneten dem damaligen Landwirtschaftsminister Wilhelm Molterer den Auftrag, einer in Verhandlung stehenden Tiertransport-Richtlinie nur zuzustimmen, wenn diese einen zumindest gleichwertigen Tierschutz gewährleistet wie das österreichische Tiertransportgesetz. Ansonsten müsse zumindest erreicht werden, dass innerhalb Österreichs die strengeren österreichischen Bestimmungen weiter gelten können. Zum anderen ging es um die Patentierung biotechnologischer Erfindungen, wobei die Abgeordneten einen zwischen dem Europäischen Parlament und dem zuständigen Ministerrat erzielten Kompromiss ablehnten. Da Molterer zeitgleich mit seinen europäischen Amtskolleg:innen über die Tiertransport-Richtlinie verhandelte, wurde ihm der Beschluss des Hauptausschusses unverzüglich in die Sitzung des EU-Ministerrats gefaxt, wie die Parlamentskorrespondenz damals berichtete.
Von der Opposition wurden die beiden Stellungnahmen teils euphorisch begrüßt. So sprach Grün-Abgeordneter Johannes Voggenhuber in Zusammenhang mit der EU-Richtlinie zum rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen von einer "grandiosen Entscheidung" und einer Korrektur der EU-Regierungspolitik durch den Nationalrat. Damit könne Wirtschaftsminister Wolfgang Schüssel der Richtlinie, die vorrangig wirtschaftliche Interessen bediene und jegliche ethische Kriterien vermissen lasse, nicht mehr zustimmen. Mit der "Fünf-Parteien-Stellungnahme" habe die Einbindung des österreichischen Parlaments in die EU-Gesetzgebung eine erste Bewährungsprobe "gut gemeistert", zeigte sich auch Volker Kier vom Liberalem Forum, der inhaltlich ähnlich wie Voggenhuber argumentierte, mehr als zufrieden.
Auf Seiten der Regierungsparteien sorgten die ersten Beschlüsse hingegen zum Teil für Kopfzerbrechen. So beklagte Molterer am Rande des EU-Agrarministerrats die Einengung seines Handlungsspielraums und stellte die Frage nach der Funktionsfähigkeit der EU, sollte die Vorgehensweise Österreichs in anderen europäischen Ländern Schule machen. Schon davor hatten die beiden ÖVP-Mandatare Georg Schwarzenberger und Jakob Auer im Hauptausschuss gegen die Fraktionslinie gestimmt, da sie eine Schlechterstellung der österreichischen Landwirt:innen und der Transportwirtschaft gegenüber ihren europäischen Kolleg:innen befürchteten. Auch bei der zweiten bindenden Stellungnahme gab es im Ausschuss eine Gegenstimme aus dem Regierungslager: Eine internationale Regelung der Biotechnologie wäre wichtig, machte ÖVP-Abgeordnete Ingrid Tichy-Schreder mit Verweis auf den zwischen Europäischem Parlament und Rat erzielten Kompromiss geltend.
Kurzfristig eingebremst wurde der Hauptausschuss des Nationalrats durch die kritischen Stimmen nicht: Gleich 17 Mal gaben die Abgeordneten den jeweils zuständigen Regierungsmitgliedern im ersten Jahr der EU-Mitgliedschaft Österreichs Verhandlungspositionen mit auf den Weg nach Brüssel. Auch der EU-Ausschuss des Bundesrats nahm seine Mitspracherechte umgehend wahr und trat erstmals am 8. Februar 1995 zu einer Sitzung zusammen, wobei er in der Anfangszeit mangels verfassungsgesetzlicher Grundlagen nur als vorberatender Ausschuss tätig werden konnte.
Erste Subsidiaritätsrügen im Herbst 2010
Die ersten Subsidiaritätsrügen wurden von den EU-Ausschüssen im September bzw. Oktober 2010 ausgesprochen, also nur wenige Wochen nach Inkrafttreten des Begleitgesetzes zum Vertrag von Lissabon. Sowohl der EU-Unterausschuss des Nationalrats als auch der EU-Ausschuss des Bundesrats waren der Meinung, dass eine EU-Richtlinie zur Beschäftigung von Saisonarbeiter:innen die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, selbst über den Zugang von Drittstaatsangehörigen zum nationalen Arbeitsmarkt zu entscheiden, aushöhlt und zudem einen hohen Verwaltungsaufwand bewirken würde. Auch seien die Mindeststandards so niedrig angesetzt, dass sie nicht geeignet wären, Ausbeutung zu verhindern, so die Kritik. Bisher noch nie Gebrauch gemacht hat das österreichische Parlament hingegen vom Instrument der Subsidiaritätsklage, auch entsprechende Anträge der Opposition gab es dazu nicht.
Bisher drei "gelbe Karten" für die EU-Kommission
Eingeführt worden war die Subsidiaritätskontrolle als eine Art Frühwarnmechanismus. Beanstandet, grob gesagt, ein Drittel der nationalen Parlamente innerhalb der vorgesehenen Frist von acht Wochen Gesetzgebungsvorschläge der Europäischen Kommission, muss diese ihren Entwurf überdenken und gleichzeitig begründen, wenn sie trotzdem dabei bleibt ("gelbe Karte"). Bei der Hälfte der Stimmen ("orange Karte") sind das Europäische Parlament und der zuständige Rat – also die jeweiligen Regierungsmitglieder – zu befassen und können gegebenenfalls mit 50 % bzw. 55 % der Stimmen die Stopptaste drücken. Jedes nationale Parlament hat bei der Subsidiaritätskontrolle zwei Stimmen, bei Zweikammersystemen wie in Österreich sind diese auf die beiden Parlamentskammern aufgeteilt.
Bisher wurde der EU-Kommission allerdings erst in drei Fällen eine "gelbe Karte" gezeigt. An keiner davon war das österreichische Parlament beteiligt. Eine "orange Karte" gab es bislang nicht. Insgesamt gingen in den Jahren 2007 bis 2023 laut einem Bericht der EU-Kommission 514 Subsidiaritätsrügen und 6.520 weitere Stellungnahmen (Mitteilungen) von nationalen Parlamenten bei ihr ein. Daten für 2024 liegen noch nicht vor. Einer Aufstellung des Europäischen Parlaments vom 13. Jänner 2025 zufolge wurden seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 mehr als 1.300 Gesetzgebungsentwürfe zur Subsidiaritätskontrolle an die nationalen Parlamente geschickt.
Zahlreiche Ausschussfeststellungen in den Jahren 2008 bis 2010
Wie andere Ausschüsse auch können die EU-Ausschüsse außerdem Ausschussfeststellungen beschließen, etwa um bestimmte Anliegen zu unterstreichen. Wie viele solcher Beschlüsse in den vergangenen 30 Jahren genau gefasst wurden, ließ sich nicht eruieren, es dürften aber in jedem Fall mehr als 60 gewesen sein. Vor allem in den Jahren 2008 bis 2010 haben die EU-Ausschüsse stark von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Ein Grund dafür war die Teilnahme an EU-weiten Testläufen, mit denen bereits vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon die Mechanismen des Subsidiaritätskontrollverfahrens einem Praxistest unterzogen wurden. Da in Österreich bis zum Herbst 2010 dafür noch keine eigenen Geschäftsordnungsmechanismen zur Verfügung standen, griffen die EU-Ausschüsse auf Ausschussfeststellungen zurück.
Weitere Mitwirkungsrechte
Eine wesentliche Bedeutung für die Wahrnehmung der Mitwirkungsrechte des Parlaments an der EU-Gesetzgebung hat die EU-Datenbank, in der alle einlangenden EU-Dokumente eingespeist werden. Wie viele Dokumente dort mittlerweile erfasst sind, in welcher Form sich das Plenum des Nationalrats und des Bundesrats mit EU-Themen beschäftigen und was es mit dem sogenannten "Feuerwehrkomitee" auf sich hat, darum geht es dann im zweiten Teil der Rückschau der Parlamentskorrespondenz auf 30 Jahre EU-Mitwirkungsrechte. (Fortsetzung) gs
HINWEIS: Das Parlament beleuchtet 2025 drei Meilensteine der Demokratiegeschichte. Vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg, vor 70 Jahren wurde der Staatsvertrag unterzeichnet und vor 30 Jahren trat Österreich der EU bei. Mehr Informationen zum Jahresschwerpunkt 2025 finden Sie unter www.parlament.gv.at/kriegsende-staatsvertrag-eu-beitritt .
Fotos von Sitzungen der EU-Ausschüsse und von Plenardebatten mit EU-Spitzenpolitiker:innen finden Sie im Webportal des Parlaments.