Parlamentskorrespondenz Nr. 622 vom 27.06.2025

Sektenbericht 2024: Von Kindesgefährdungen bis zu problematischen Online-Coachings

Wien (PK) – Die Bundesstelle für Sektenfragen blickt auf ein arbeitsintensives Jahr zurück, das durch "hohe gesellschaftliche Dynamiken, neue Formen ideologischer Einflussnahme sowie eine verstärkte digitale Präsenz potenziell gefährdender Akteur:innen" geprägt war, ist dem Tätigkeitsbericht 2024 zu entnehmen.

Neben dem Schwerpunkt "Online-Monitoring zu Verschwörungstheorien" habe auch das "Spannungsfeld zwischen Glaubensfreiheit und Kindeswohl" immer mehr an Bedeutung gewonnen. In zahlreichen Beratungsfällen habe sich gezeigt, dass Gefährdungen häufig subtiler Natur sind – etwa in Form von rigiden Rollenbildern, Zwangsritualen, Isolation, Verweigerung von Bildung oder medizinischer Hilfe.

Intensiver befasst haben sich die Mitarbeiter:innen zudem mit Gefährdungen durch weltanschauliche bzw. religiöse Anbieter in der Suchtprävention, wobei insbesondere die Aktivitäten der Scientology-Vorfeldorganisation "Sag Nein zu Drogen" im Zentrum standen.  Generell verzeichnete die Bundesstelle einen Anstieg von 36 % bei den Kontakten bzw. 20 % bei den Beratungsfällen.

Im insgesamt 87 Seiten umfassenden Bericht werden auch wieder eine Reihe von Fallbeispielen angeführt, die die Vielschichtigkeit der Problemlagen – von schädlichen Erziehungsmethoden über manipulative Dynamiken in Gruppen bis hin zu Erfahrungen mit spirituell legitimiertem Missbrauch – illustrieren (III-183 d.B.).

Anfragen zu Esoterik und zu Gemeinschaften mit christlichem Hintergrund an vorderster Stelle

Die im Bundeskanzleramt angesiedelte Bundesstelle für Sektenfragen, die im Jahr 2024 insgesamt 1.957 Kontakte zu verzeichnen hatte, steht seit 1998 als zentrale Service- und Anlaufstelle allen Privatpersonen und Institutionen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen zur Verfügung. In ihren Aufgabenbereich fallen nicht nur Informations- und Beratungsleistungen, sondern auch Öffentlichkeits- und Medienarbeit sowie Vernetzungs- und Weiterbildungsaktivitäten.

Das Spektrum der an sie herangetragenen Themen ist dabei sehr breit gefächert und reicht von alternativen religiösen Bewegungen über Esoterik und spezifischen Angeboten zur Lebenshilfe bis hin zu Geist- und Wunderheilungen, fundamentalistischen Strömungen, Guru-Bewegungen und Verschwörungstheorien. Aber auch Probleme und Fragen in Bezug auf die Szene der Staatsverweigerer oder zu Pyramiden- bzw. Schneeballsystemen werden an die Bundesstelle herangetragen.

Nicht in den Zuständigkeitsbereich der weisungsfreien und konfessionell unabhängigen Bundesstelle fallen die gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften. Im Rahmen der umfassenden Informations- und Beratungstätigkeit werden Glaubensfragen oder religiöse Vorstellungen nicht beurteilt oder bewertet, es gilt das Toleranzgebot gegenüber allen Glaubensgemeinschaften und Weltanschauungen, wird im Bericht betont. Im Mittelpunkt stehe immer die Frage nach möglichen Gefährdungen für ein Individuum oder eine Personengruppe, die von "Sekten" oder "sektenähnlichen Aktivitäten" ausgehen können.

An die Bundesstelle wenden sich in der Regel Menschen dann, wenn sie in ihrem privaten oder beruflichen Umfeld bei Familienangehörigen oder Kolleg:innen eine "sektenartige" Dynamik beobachten, eine Gemeinschaft auffallend missionarisch für sich wirbt bzw. deren Mitglieder sich innerhalb kurzer Zeit stark "verändern". Im Jahr 2024 führte dies zu 483 Beratungsfällen – ein Plus von 20 % - bzw. 1.957 Kontakten (+ 36 %). Am häufigsten waren Anfragen zu Esoterik (143) und zu Gemeinschaften mit christlichem Hintergrund (142), gefolgt von den Themenbereichen "Coaching-Angebote" (51), Sekten allgemein (40) und Heilungsangebote bzw. Pseudomedizin (33).

Im Jahr 2024 hat die Bundesstelle laut ihrem Bericht die Aktivitäten in den Bereichen Information, Beratung, Forschung und Vernetzung intensiviert, um den gestiegenen Anforderungen gerecht werden zu können. Das dafür eingesetzte Team bestand im Jahr 2024 aus durchschnittlich neun Mitarbeiter:innen, was einem Vollzeitäquivalent von 5,89 entspricht.

Neuer Arbeitsschwerpunkt: "Geschäftsmodell Verschwörungstheorien"

Beim Online-Monitoring zu Verschwörungstheorien handelt es sich um ein vom Bundeskanzleramt finanziertes Forschungsprojekt, bei dem vor allem die Telegram-Kanäle der österreichischen COVID-19-Protestbewegung näher untersucht wurden. In manchen Subgruppen würden deren Inhalte nach wie vor starke demokratie- und menschenfeindliche Tendenzen aufweisen. Der erste Monitoring-Bericht, veröffentlicht im April 2024, habe deutlich gezeigt, dass verschwörungstheoretische Narrative wie "Great Reset", "QAnon" oder antisemitische Stereotype weitreichend verbreitet werden, resümieren die Autor:innen.

In einem neuen Bericht, der im Juni 2025 erscheinen soll, wird das Forschungsteam das "Geschäftsmodell Verschwörungstheorien" beleuchten und Strategien der Monetarisierung untersuchen. Wie internationale  Studien belegen, würden Verschwörungserzählungen nicht nur politischen Zwecken, sondern in zunehmenden Maße dem Verkauf überteuerter und teils gesundheitsschädlicher Produkte dienen.

Bezüglich der Problematik "Glaubensfreiheit und Kindeswohl" wird im Bericht darauf hingewiesen, dass die Bundesstelle in diesem Zusammenhang interdisziplinäre Vernetzungen initiiert und Fortbildungsformate zum Schutz von Kindern in stark weltanschaulich geprägten Kontexten entwickelt hat.  

Weiters hat die Bundesstelle in Kooperation mit dem Institut für Suchtprävention eine kritische Stellungnahme erarbeitet, die die inhaltlichen Mängel und potenziellen Risiken von Angeboten wie "Sag Nein zu Drogen" aufzeigt. Es folgten bundesweite Informationsaussendungen und Gespräche mit zuständigen Behörden. Bei dem Anbieter dieses Programms handelt es sich um eine Vorfeldorganisation von Scientology.

Sektenstelle plädiert für verbindliche Qualitätssicherung bei privaten Sommerbetreuungsangeboten

Aufgezeigt wurde auch, dass sich im Bereich private Sommerbetreuung durch religiöse oder weltanschauliche Anbieter manchmal ein Problem der fehlenden Transparenz hinsichtlich der vermittelten Inhalte gezeigt habe. Hinter scheinbar neutralen Freizeitaktivitäten würden sich mitunter missionarische Absichten oder ideologisch geprägte Programme finden, die nicht immer offengelegt werden.

Es seien auch Beschwerden über mangelhafte oder fragwürdige pädagogische Grundlagen vorgebracht worden. Die Bundesstelle für Sektenfragen spricht sich gemeinsam mit der Kinder- und Jugendanwaltschaft Wien daher für eine verbindliche Qualitätssicherung und regelmäßige Evaluierung solcher Angebote aus, um Kinderrechte und Kinderschutz auch in privat organisierten Ferienprogrammen besser zu gewährleisten.

Problematische Online-Coaching-Formate

Ein wesentlicher Abschnitt des Berichts widmet sich aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen, Trends und Aktivitäten im Arbeitsfeld der Bundesstelle. Die Analyse habe dabei eine zunehmende Präsenz von Akteur:innen gezeigt, die gezielt frauenfeindliche, queerfeindliche oder verschwörungstheoretische Inhalte verbreiten. Am

problematischsten sei dies in Form von Online-Coaching-Formaten zu Tage getreten, die nicht nur tradierte Rollenbilder, sondern teilweise offen misogyne Weltbilder propagieren würden. Als exemplarische Figuren wurden u. a. Andrew Tate, der sich durch gewaltverherrlichende und antifeministische Aussagen hervortut, sowie Markus Streinz, ein provokant auftretender Akteur der österreichischen Coachingszene, ausführlicher dargestellt.

Beispielhaft für esoterische Aktivitäten im digitalen Raum dokumentierte die Bundesstelle auch den Auftritt von Oliver Michael Brecht (Geistheiler Sananda), der über diverse Kanäle düstere esoterische Botschaften verbreitet und mit seinen Fernheilungsangeboten eine wachsende Anhängerschaft gewinnt.

Internationale Dynamiken würden sich in verstärkten Missionierungsbestrebungen durch Gruppen wie Shincheonji - eine südkoreanische Organisation mit starker Präsenz im deutschsprachigen Raum - zeigen. Die Rekrutierung erfolge häufig unter dem Vorwand kostenloser Bibelkurse und zeige eine Tendenz zur Verschleierung der tatsächlichen Gruppenzugehörigkeit.

Neopaganismus bzw. Neuheidentum

Ein besonderes Augenmerk wurde zudem auf Entwicklungen im Bereich Neopaganismus bzw. Neuheidentum gelegt. Entsprechende Strömungen sind äußerst vielfältig und reichen von spirituellen Selbsterfahrungsangeboten über germanisch oder "wedrussisch" inspirierte Nähkurse bis hin zu esoterisch-ökologischen Lebenskonzepten. In einigen Teilbereichen sei ein zunehmender Bezug auf völkische Narrative, Geschichtsrevisionismus, Verschwörungstheorien und Antisemitismus festgestellt worden.

Die Bundesstelle habe sich mit diesen Entwicklungen stets mit Blick auf mögliche individuelle Gefährdungen sowie deren Auswirkungen auf gesellschaftlichen Zusammenhalt und demokratische Grundhaltungen befasst, wird im Bericht betont. Die Autor:innen unterstreichen die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Beobachtung weltanschaulicher Strömungen, eine beständige Weiterentwicklung der fachlichen Instrumente sowie eine Stärkung interdisziplinärer Kooperationen. (Schluss) sue