14.29

Abgeordnete Petra Vorderwinkler (SPÖ): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr ge­ehrter Herr Minister! Hohes Haus! Sehr geehrte Zuseherinnen und Zuseher! Im Jahr 2008 hat sich Österreich zu einem inklusiven Bildungssystem bekannt. 14 Jahre nach dieser Ratifizierung durch das österreichische Parlament wissen wir nach einer Evaluierung durch die Universität Wien und nach zahlreichen Rückmeldungen verschiedenster Orga­ni­sationen sowie aus dem Bildungssystem: Heute sind wir vom Ziel weiter entfernt, als dass wir uns diesem angenähert hätten. Mit der immer noch vorhandenen 2,7-Prozent-Deckelung der Ressourcen für den SPF kommt seit Jahren kein einziges Bundesland aus, und alles, was darüber hinaus gebraucht wird, wird anderen Kindern weggenom­men. So kann es einfach nicht weitergehen! (Beifall bei der SPÖ.)

Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem nicht mehr weggeschaut werden kann. Corona hat alle Missstände dieses Bildungssystems noch verschärft. Alle Baustellen, die es schon seit Jahren bei uns gibt, sind durch die fehlenden Hilfen, durch die fehlende Unterstützung zu Riesenbaustellen geworden. Das wird nicht mehr von allein! Im Gegenteil, das Bildungssystem steht derzeit vor einem Kollaps und die Einrichtungen sind am Ende. Der Personalmangel, den es seit Jahren gibt, wird durch die zahlreichen Quarantäneausfälle noch verschärft. Es gibt PädagogInnen, die zwei Jahre hindurch an der Belastungsgrenze gearbeitet haben und nicht mehr können, es gibt Kinder, die bereits im Volksschulalter Suizidgedanken haben. Es kann in Österreich nicht sein, dass es dafür keine Hilfe gibt, dass es keine Therapieplätze gibt und alle wegschauen. (Beifall bei der SPÖ.)

Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem Kinder um Hilfe schreien, die Eltern um Hilfe schreien, Pädagoginnen und Pädagogen um Hilfe schreien, die Schulleiterinnen und Schulleiter um Hilfe schreien. Und was machen Sie, Herr Minister? – Sie haben am Sonntag in der „Pressestunde“ eine ganze Stunde lang geredet, ohne inhaltlich etwas zu sagen, nur dass Sie keinen Plan, keine Idee, keine Meinung zu Fragen, die gerade brennen, haben, und offensichtlich haben Sie auch kein Verständnis. (Zwischenruf der Abg. Totter.) Wir befinden uns gerade nicht nur auf dem Gipfel der Coronafallzahlen, sondern auch auf dem Gipfel des Chaosmanagements dieses Bildungsministeriums, das seit zwei Jahren an den Bedürfnissen aller vorbei arbeitet. (Beifall bei der SPÖ.)

Wie ist die Aussicht auf den Herbst? – Es gibt derzeit noch keine Antwort von Ihnen. Wissen Sie eigentlich, dass jetzt gerade im März die Bedarfserhebungen von den Schu­len an die Bildungsdirektionen gemeldet werden? Übrigens ist am ersten Montag im September Schulbeginn  nur damit es heuer im Ministerium nicht wieder eine Über­raschung gibt. (Beifall bei der SPÖ.)

In den meisten Fällen werden dann von den Schulqualitätsmanagern bei den Besprechun­gen die Stunden gekürzt und reduziert (Zwischenruf der Abg. Totter), weil vom Bund nicht mehr Bedarfsdeckung da ist. – Ja, Frau Kollegin, Sie brauchen gar nicht den Kopf zu schütteln! (Abg. Totter: Unglaublich!) Wir brauchen bedarfsgerechte Ressourcen­zuteilung, und davon sind wir meilenweit entfernt. Von den versprochenen Entlastungen, die die Schulen erreichen sollten, ist nichts zu sehen. So schaut es aus! (Zwischenrufe der Abgeordneten Totter und Schnabel.)

Immer mehr Schulleiter befürchten daher einen pädagogischen Super-GAU für den nächsten Schulbeginn. Die Entwicklungsschere ist nämlich bei den Schulanfängern, die jetzt in die Schule kommen, größer als sie es jemals zuvor war. Das ist deswegen so, weil ein unregelmäßiger Kindergartenbesuch dazu geführt hat, dass einige Kinder ver­mutlich schon lesen, schreiben und rechnen können und andere nicht einmal soziale Kontakte erlernt haben, weil sie nicht im Kindergarten waren. In normalen Jahren ist das schon eine Herausforderung für eine Pädagogin, für einen Pädagogen, aber in diesem Jahr ist das eine Riesenherausforderung, die von einer einzigen Lehrkraft nicht mehr bewältigt werden kann.

Für das kommende Schuljahr braucht es angepasste Verstärkung, eine pädagogische Erhöhung der Stundenzuteilung. Ich fordere daher für die 1. und 2. Schulstufe eine Dop­pelbesetzung. Bevor der Einwand kommt, dass wir ja ohnehin kein Personal haben: Es ist lösbar. Wenn nämlich Musiker, Sportler oder Künstler Fächer wie Musik, Sport und Bewegung, Bildnerische Erziehung oder Werken mit Sonderverträgen übernehmen, könnten wir sofort die freigespielten Lehrkräfte für die individuelle Unterstützung zum Beispiel in Deutsch und Mathematik einsetzen. Besondere Herausforderungen brauchen einfach besondere Antworten.

Daher bringe ich folgenden Entschließungsantrag ein:

Entschließungsantrag

der Abgeordneten Petra Vorderwinkler, Kolleginnen und Kollegen betreffend „Vorrang für die Volksschule“

Der Nationalrat wolle beschließen:

„Die Bundesregierung und insbesondere der Bundesminister für Bildung, Wissenschaft und Forschung werden aufgefordert, dem Nationalrat eine Regierungsvorlage zu über­mitteln, in der endlich der erhöhte Förderbedarf von Kindern in der Volksschule Berück­sich­tigung findet. In der daraus folgenden Konsequenz sollen ab dem Schuljahr 2022/2023 als ein erster Schritt in den ersten beiden Schulstufen in der Grundstufe I jedenfalls zwei Lehrkräfte zum Einsatz kommen, zumindest jedoch in den Leitgegenständen Deutsch und Mathematik.“

*****

Ich ersuche alle Abgeordneten, nicht wegzuschauen und die Kinder und die Bildungs­einrichtungen mit diesem Problem nicht allein zu lassen!

Herr Minister, Sie haben sich selber als fleißigen und intensiv arbeitenden Mann, sozu­sagen als den dʼArtagnan der Bildung dargestellt, der dafür kämpft, dass es Verbesserungen gibt. Im Moment wirken Sie eher wie ein Sancho Panza auf einem Esel, der sich nicht vom Fleck bewegt. – Vielen Dank. (Beifall bei der SPÖ. – Rufe bei der ÖVP: Hallo!)

14.34

Der Antrag hat folgenden Gesamtwortlaut:

Entschließungsantrag

der Abgeordneten Petra Vorderwinkler,

Genossinnen und Genossen

betreffend „Vorrang für die Volksschule“

eingebracht im Zuge der Debatte zum Bericht des Unterrichtsausschusses über die Petition 63/PET betreffend "Inklusive Bildung jetzt", überreicht von den Abgeordneten Petra Vorderwinkler, Fiona Fiedler, BEd, Mag. Martina Künsberg Sarre und Mag. Verena Nussbaum (1369 d.B.) (TOP 14)

Seit zwei Jahren stellt die Corona-Krise mit ihren Begleiterscheinungen für alle Men­schen in Österreich eine große Herausforderung dar. Gerade für Kinder jedoch ist diese Zeit noch viel schwieriger zu bewältigen. Ihre Entwicklung und ihre Entfaltung wurden durch die Maßnahmen während der Pandemie stark eingeschränkt. Die Jüngsten in unse­rem Schulsystem trifft diese Corona-Zeit besonders. Ein unregelmäßiger Besuch der elementarpädagogischen Einrichtungen während der vergangenen zwei Jahre hat die Entwicklungsschere der Kinder, die im nächsten Schuljahr in die erste Schulstufe kommen, noch weiter auseinanderklaffen lassen. Das bedeutet, sie kommen mit völlig unterschiedlichen Voraussetzungen und Lernständen vom Kindergarten in die Volksschule. Beim kommenden Schulbeginn im Herbst wird dieser Unterschied größer sein als jemals zuvor. Schon früher unter „normalen“ Umständen war eine erste Schul­stufe eine Riesenherausforderung für jede Pädagogin und jeden Pädagogen. Corona hat jedoch auch diesen Umstand um ein Vielfaches verschärft. Es treffen nun im Herbst Kinder, die auf der einen Seite bereits lesen, schreiben und rechnen können auf jene, die vermutlich weder ihren Namen schreiben noch mit anderen ausreichend sprachlich kommunizieren können oder nur bedingt soziale Erfahrungen gemacht haben. Und alle jene 25-30 Kinder in der Klasse werden von einer einzigen Pädagogin oder einem Pädagogen unterrichtet, die bzw. der diesen Spagat ganz allein tagtäglich vornehmen muss, damit am Ende des Schuljahres die Lehrplanziele erfüllt sind. Eine nicht mehr leistbare Aufgabe!

Nun kommt mit dem Krieg in der Ukraine eine weitere Herausforderung auf alle in unserem Bildungssystem hinzu. Viele geflüchtete Kinder werden im nächsten Schuljahr in Österreich zur Schule gehen. Zusätzlich zu den Sprachbarrieren besteht noch eine große psychische Belastung aufgrund der traumatischen Kriegs- und Fluchterlebnisse. Das pädagogische Personal in den Bildungseinrichtungen ist auch hier wieder einmal jenes, das zusätzlich zu allen anderen Aufgaben auch diese bewältigen muss. Ob eine ausreichende Unterstützung, als psychosozialer Support, in dieser Hinsicht zu erwarten ist, ist derzeit noch offen.

Unbestritten ist, dass notwendiges Wissen, welches in der Volksschulzeit nicht auf­ge­baut werden kann, in der späteren schulischen Laufbahn nicht mehr aufzuholen ist und das hat wiederum volkswirtschaftliche Auswirkungen auf Jahrzehnte hin. Im Kindesalter gibt es ein sogenanntes Entwicklungsfenster für den Erwerb bestimmter Fähigkeiten. Besonders deutlich wird dies beim Spracherwerb, der in einem Zeitfenster vom dritten bis zum achten Lebensjahr stattfindet. Ähnlich verhält es sich mit der Zähl- und Rechen­kompetenz. Erfahrungen, die in diesem Lebensalter nicht gemacht werden, lassen sich nur sehr schwer oder überhaupt nicht mehr kompensieren. Daher muss gewährleistet sein, dass jedem Kind die beste Begleitung und Unterstützung ermöglicht wird, um sich entfalten zu können und Grundlegendes zu erlernen. Dies ist jedoch unter den hier be­schriebenen Umständen nicht möglich.

Die jüngsten Schüler*innen in den ersten beiden Schulstufen brauchen die meiste Unterstützung. Sie können nicht auf sich allein gestellt Arbeitsaufträge erfüllen, sie brauchen Hilfe, Anleitung und Zuwendung. Damit unsere Volksschullehrer*innen jedoch allen individuellen Bedürfnissen der Kinder in ihrer Vielschichtigkeit gerecht werden können, brauchen sie in den ersten beiden Schulstufen zwei Pädagog*innen in der Klasse, zu­mindest aber müssen in einem ersten Schritt die Leitgegenstände Deutsch und Mathe­matik mit einer zweiten pädagogischen Kraft besetzt sein. Teamteaching muss ermög­licht werden.

Um dieser Aufgabe zumindest ansatzweise gerecht zu werden, braucht es also für den kommenden Schulbeginn im Herbst 2022 dringend eine der Situation angepasste pädagogische Verstärkung und eine Erhöhung bei der Ressourcenzuteilung. Mit der momentan bestehenden Personalknappheit ist qualitativer Unterricht nicht mehr durch­führbar. Personalreserven waren vor Corona schon meist nicht vorhanden und sind nun in kürzester Zeit nicht mehr verfügbar, Supplierungen stehen an der Tagesordnung und die Aufgaben, die an die Schulleiter*innen und Pädagog*innen übertragen werde, wer­den immer mehr. Die vom Bildungsministeriums angekündigten Entlastungen sind leere Worte – das Gegenteil ist der Fall. Die versprochenen 1000 Studierenden zur Unter­stützung sind nach fast einem ganzen Schuljahr in den meisten Schulen nicht vor­handen.

In vielen Schulen wird derzeit, auch aufgrund der vielen Ausfälle durch Corona, gerade noch der Betrieb aufrecht erhalten, von Unterricht kann kaum die Rede sein. Und das seit Wochen. Unter schwierigsten Bedingungen werden dennoch täglich soziale Kom­peten­zen, Werte und Normen vermittelt. Vieles, das Kinder und Jugendliche zusätzlich brauchen, ist aber nicht mehr mit der Profession von Lehrer*innen abzudecken. Auch hier besteht dringender Bedarf in Form von sofort verfügbaren multiprofessionellen Teams. Die Pädagog*innen sind an ihren Belastungsgrenzen angelangt. Wie schlimm muss die Situation der Bildungseinrichtungen, die allesamt vor dem Kollaps stehen, noch fortschreiten, bis endlich Hilfe vom Bildungsministerium kommt? Die Bundesregierung setzt mit dieser Politik auch die Gesundheit eines ganzen Berufsstandes aufs Spiel!

Zusammenfassend ist nochmals zu betonen: Bildungsrückstände, die in den ersten zwei Schulstufen entstehen, bleiben ein Leben lang. Das darf von der Politik nicht bewusst in Kauf genommen werden! Eine verantwortungsvolle Bildungspolitik stärkt das Fun­dament. Es muss daher generell, aber in der momentanen Situation besonders, die absolute Priorität auf die Volksschulen im österreichischen Bildungssystem gelegt werden. Es ist die Pflicht unseres Staates, den Kindern in Österreich die bestmöglichen Bildungschancen zur Verfügung zu stellen. Volksschulen brauchen somit einen tat­säch­lichen Fördervorrang!

Aus diesem Grund stellen die unterfertigten Abgeordneten nachstehenden

Entschließungsantrag

Der Nationalrat wolle beschließen:

„Die Bundesregierung und insbesondere der Bundesminister für Bildung, Wissenschaft und Forschung werden aufgefordert, dem Nationalrat eine Regierungsvorlage zu über­mitteln, in der endlich der erhöhte Förderbedarf von Kindern in der Volksschule Berück­sich­tigung findet. In der daraus folgenden Konsequenz sollen ab dem Schuljahr 2022/2023 als ein erster Schritt in den ersten beiden Schulstufen in der Grundstufe I jedenfalls zwei Lehrkräfte zum Einsatz kommen, zumindest jedoch in den Leitgegenständen Deutsch und Mathematik.“

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Präsidentin Doris Bures: Der Entschließungsantrag ist ordnungsgemäß eingebracht und steht mit in Verhandlung.

Frau Abgeordnete Kira Grünberg, Sie gelangen zu Wort. Bitte.