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Circa 1,5 Millionen jüdische Kinder wurden während der Shoah ermordet. Der Kindertransport nach England in der Zeit vom Novemberpogrom 1938 bis zum Kriegsbeginn 1939 rettete circa 10.000 jüdischen Kindern das Leben. Mit dem Begriff Kindertransport ist international grundsätzlich die organisierte Ausreise jüdischer Kinder 1938/39 aus Deutschland, Österreich und in sehr kleinem Ausmaß aus der Tschechoslowakei ins Exil nach England gemeint. Die Kinder wurden, um ihr Überleben zu ermöglichen, ohne ihre Eltern, manchmal mit einem ihrer Geschwister in Gruppen mit Zügen nach England gebracht, um dort in Pflegefamilien, Heimen und karitativen Einrichtungen untergebracht zu werden. Auslöser für diese beispiellose Hilfsaktion war das Novemberpogrom. Diese einzigartige Hilfs und Rettungsaktion jüdischer Kinder wurde bis Kriegsbeginn im Herbst 1939 durchgeführt. Die Kinder, die mit Hilfe des Kindertransports in Sicherheit gebracht wurden, erlebten Unvorstellbares, Unsagbares, Unvergleichliches. Jedes Kind, jeder erwachsene Mensch, der diese Traumatisierungen überlebt hat, ist ein Wunder. Grundsätzlich haben alle Überlebenden unterschiedliche Schicksale. Gemeinsam ist ihnen allerdings, dass sie ihr Überleben dieser Aktion verdanken. Das Überleben war die Ausnahme; die Ermordung war die Regel. Die Überlebenden befanden sich in einem Spannungsfeld. Sie haben überlebt, während ihre Familien zumeist umgebracht wurden. Sie konnten in scheinbarer Sicherheit weiterleben, während andere Kinder in Lagern ermordet wurden oder versteckt waren.
Im Verhältnis zu zahlenmäßig vielen autobiografischen Darstellungen von Überlebenden der Shoah sind die Selbstbeschreibungen von überlebenden Kindern spärlich gesät. Dies liegt auch daran, dass ihnen lange nicht zugestanden wurde, über ihre Erlebnisse und Verluste zu trauern. Die Umwelt und das eigene Bewusstsein schienen zu sagen, dass wahre Überlebende nur die aus den Konzentrationslagern Zurückgekehrten seien, während den Kindern eigentlich nichts passiert sei, da sie die schlimmste Zeit ja im sicheren Großbritannien zugebracht hätten. Auf Initiative der Präsidentin des Bundesrates, Korinna Schumann und der Politikwissenschaftlerin und Senior Parliamentary Advisor, Barbara Serloth, ist es das Ziel dieser Diskussionsveranstaltung, die Schicksale und die Erlebnisse der „Child Survivors“ in den Fokus zu rücken. Unter den Begriff „Child Survivors“ fallen alle Überlebenden, die als Kinder in Konzentrations- und Vernichtungslagern, im Versteck oder auf der Flucht überlebten und bei Kriegsende keine sechzehn Jahre alt waren, sowie die kleine Gruppe der Kinder, die durch Kindertransporte gerettet werden konnten. Inhaltlich orientiert sich die Diskussionsveranstaltung an dem gleichnamigen Buch „Vergiss nie, dass du ein jüdisches Kind bist“ von Anna Wexberg-Kubesch. Anna Wexberg-Kubesch ist eine renommierte Psychotherapeutin, Supervisorin und Wissenschaftlerin, die in Wien lebt und mit zahlreichen Publikationen und Vorträgen über die Shoa, über jüdische Kinder während der Shoa, über Second Generation und Trauma und mit Projekten wie „Never/Forget/Why – die Kinder aus Theresienstadt“, oder „Was geschah in der Seegasse – die schwedische Israelmission“, wesentlich zur österreichischen Erinnerungskultur beiträgt. Anna Wexberg-Kubesch hat für ihre Publikationen Biografien untersucht, die das individuelle und kollektive Erleben der geretteten Kinder in den Familien, in der Schule, in ihren unterschiedlichen Lebensbereichen gleichermaßen darstellen wie die psychischen und physischen Auswirkungen der gesellschaftlichen Gewalt. Die Autorin spannt damit einen historischen Bogen von den 1930er Jahren bis heute, der die betroffenen Kinder vor, während und nach der Shoah in den Mittelpunkt der Betrachtungen stellt. Milli Segal ist PR-Beraterin, Expertin für Veranstaltungsorganisation, Kuratorin von Ausstellungen und Filmen zum Thema Holocaust und Shoah. Das Thema des Kindertransports steht seit über 13 Jahren im Mittelpunkt ihrer Tätigkeiten, eines ihrer wesentlichen Projekte ist die Wanderausstellung „Für das Kind“. Ihr Talent und ihre Expertise als Organisatorin von Veranstaltungen konnte sie bei Großprojekten wie der Bestattung der Opfer des Spiegelgrund, dem Lichtermeer und der Organisation zahlreicher Konzerte, unter Beweis stellen. Milli Segal organisiert und kuratiert seit 2005 bedeutende Ausstellungen u.a. von Yad Vashem, Lohamei Hagetaot und Givat Haviva sowie Filme zu diesen Themen.
Gemeinsam diskutierten beide Expert:innen die Thematik rund um die Kindertransporte und versuchen dabei anhand individueller Schicksale die Tragik der „Child Survivors“ in den Mittelpunkt zu rücken und mögliche Implikationen für die Gegenwart zu eröffnen.