Bibliothek - Aktueller Tipp 12.05.2025

Was liest eigentlich Philippe Sands?

Ein Brief aus Damaskus

"Lieber Kamerad Reinhardt!" – mit diesen Worten beginnt jener Brief vom 22. Mai 1949, der Philippe Sands zur Arbeit an seinem kürzlich im Parlament vorgestellten Buch veranlassen sollte. "Reinhardt" war SS-Gruppenführer Otto Wächter, in dessen Nachlass (digitalisiert und zugänglich über das US Holocaust Memorial Museum) Philippe Sands für seinen vorherigen Best-Seller "Die Rattenlinie" recherchierte. Der Absender des Briefes: niemand Geringerer als Walther Rauff, SS-Standartenführer und maßgeblich beteiligt an der Entwicklung mobiler "Vergasungswägen", in denen Zehntausende Jüdinnen und Juden von den Nationalsozialisten ermordet wurden, und mittlerweile auf der Flucht. Dass dieser letztendlich in Chile landen und dort – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – unbehelligt im Regime des zwischen 1973 und 1990 autoritär herrschenden Augusto Pinochet tätig war, davon handelt Philippe Sands Werk "Die Verschwundenen von Londres 38. Über Pinochet in England und einen Nazi in Patagonien". Präsentiert wurde das Buch am 9. Mai im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Literatur am Ring" der Parlamentsbibliothek. Die Veranstaltung kann in der Mediathek des Parlaments jederzeit nachgesehen werden. 

„You could not invent such a story, or stories”

Eine Geschichte wie jene von Walther Rauff – sowie unzählige weitere Zufälle, Verbindungen und Ungeheuerlichkeiten, die Philippe Sands in seinem Werk schildert – könne man nicht erfinden. Neben den in langjähriger Recherche etablierten Fakten, spielen aber auch literarische und halbfiktionale Werke eine wichtige Rolle – sowohl für die tatsächlichen Ereignisse in und um Chile, als auch für die Art und Weise wie Sands diese erzählt. In den 1980er, 1990er und den 2000er Jahren hatten chilenische Schriftsteller, Dichter und Filmemacher in ihrem Schaffen auf die umstürzenden Ereignisse in ihrem Land reagiert.

Besonders Rauff, der zur Zeit des Putsches durch Pinochet zu einer beinahe "mythischen Figur" ("Ich stehe hier sozusagen unter Denkmalschutz", so Rauff in einem Gespräch mit SS-General Karl Wolff) in Chile avanciert war, findet Eingang in die Literatur. Etwa in Roberto Bolaños Roman „Chilenisches Nachtstück“, in dem die Figur des Señor Odeim klar an Rauff angelehnt ist. Ein zweites, einflussreiches literarisches Werk ist Bruce Chatwins Reisebericht "In Patagonien. Reise in ein fernes Land", das bei Sands selbst "ein starkes Gefühl für die Region" hinterlassen hatte. Im Jahr 1977 – und damit kurz nach dem Höhepunkt der durch den chilenischen Geheimdienst DINA verübten Folter-und Tötungsaktionen an politischen Gegner:innen – erschienen, tritt auch hier Walther Rauff in Erscheinung. In Punta Arenas, an der äußersten Südspitze Chiles, dient Philippe Sands das Werk von Chatwin als Reisführer: "Mit einem Exemplar von ‚In Patagonien‘, das ich mit Eselsohren und Anmerkungen versehen hatte, schlenderte ich durch die Straßen." Andererseits ist es für Sands eine Brücke, um den "Mythos Rauff" und sein damaliges Umfeld zu begreifen: "Was die Mythen anbelangte, so gab es keinen besseren Führer als Chatwin".

Eine Verantwortungslinie?

Abseits der mannigfaltigen Erinnerungen, Zuschreibungen und Anekdoten, die Sands Gesprächspartner:innen im Buch mit Walther Rauff verbinden, ist eine Frage in seiner Recherche zentral: War Rauff tatsächlich persönlich an Folterverhören und Tötungsaktionen des Pinochet-Regimes beteiligt? Und lässt sich somit eine "Verantwortungslinie" in der Kontinuität des Terrors des Nationalsozialismus bis in das Chile der 1970er Jahre unter Pinochet ziehen? Philippe Sands gelingt es tatsächlich, zwei Folteropfer ausfindig zu machen, die im Haus an der berüchtigten Adresse "Londres 38" von DINA-Agenten brutalsten Verhörmethoden unterzogen wurden. Beide geben an, bei ihren Folterungen wäre ihnen ein Mann mit starkem, deutschen Einschlag in der Stimme in Erinnerung geblieben. Einem der Verhörten spielt Sands die einzig erhaltene Aufnahme von Rauffs Stimme vor – was bei diesem sofortiges Entsetzen und heftige körperliche Reaktionen hervorruft: "Als er das Wort hörte, schienen Zárates Gesichtszüge buchstäblich zu erstarren. Er legte die Hände auf den Tisch und verschränkte sie fest. Mehrere Minuten saß er unbeweglich da. Ich sagte nichts. Nie habe ich jemanden in der Weise reagieren sehen." Rauff scheint durch seine Stimme posthum überführt – die zufällige literarische Tangente tritt hier als das chilenisches Theaterstück "Der Tod und das Mädchen" von Ariel Dorfman in Erscheinung. Auch hier erkennt eine Frau ihren ehemaligen Peiniger aus jener Zeit anhand seiner Stimme.

Wie stark Philippe Sands von zeitgenössischer fiktionaler und poetischer Literatur inspiriert wurde, davon zeugt die Literaturliste im Anhang seines neuesten Werks. In der Parlamentsbibliothek finden Sie – stellvertretend – die angeführten Bücher von Bolaño, Chatwin und Dorfman. Neben den Werken von Philippe Sands, finden Sie hier auch rezente persönliche Literaturempfehlungen des Autors. Die Parlamentsbibliothek wünscht eine spannende Lektüre! 

Literaturempfehlungen

…rund um "Die Verschwundenen von Londres 38"

  • Bolaño, Roberto, Chilenisches Nachtstück (Hanser Verlag, München/Wien 2007) – Bestellen
  • Chatwin, Bruce, In Patagonien: Reise in ein fernes Land (Rowohlt, Hamburg 2025) – Bestellen
  • Dorfman, Ariel, Der Tod und das Mächen: Stück in 3 Akten (Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurm a.M. 2009) – Bestellen

Persönliche Literaturempfehlungen von Philippe Sands

  • Funder, Anna, Wifedom: Mrs Orwell’s invisible life (Penguin Books, London 2024) – Bestellen
  • Flaubert, Gustave, Madame Bovary: Moeurs de Province (Lévy, Paris 1857) – Online-Zugriff auf Volltext
  • Labatut, Benjamín, Maniac (Suhrkamp, Berlin 2023) – Bestellen
  • Thrall, Nathan, Ein Tag im Leben von Abed Salama : die Geschichte einer Jerusalemer Tragödie (Pendragon, Bielefeld 2024) – Bestellen

Literatur von Philippe Sands

  • Die Verschwundenen von Londres 38: über Pinochet in England und einen Nazi in Patagonien (Fischer, Frankfurt a.M. 2025) – Bestellen
  • Die letzte Kolonie: Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Indischen Ozean (Fischer, Frankfurt a. M. 2023) – Bestellen
  • Die Rattenlinie: ein Nazi auf der Flucht: Lügen, Liebe und die Suche nach der Wahrheit (Fischer, Frankfurt a. M. 2020) – Bestellen
  • Rückkehr nach Lemberg: über die Ursprünge von Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit: eine persönliche Geschichte (Fischer, Frankfurt a.M. 2019) – Bestellen
  • Lawless world: making and breaking global rules (Penguin Books, London 2016) – Bestellen
  • Torture team: Rumsfeld's memo and the betrayal of American values (Palgrave Macmillan, New York u.a. 2008) – Bestellen
  • Bowett's law of international institutions (Sweet&Maxwell, London 2001) – Bestellen