Das Europäische Semester dient als jährlich wiederkehrender Zyklus zur wirtschafts- und haushaltspolitischen Koordinierung innerhalb der EU und des Euro-Währungsgebiets. Das Europäische Semester 2022 startete im November 2021 mit dem Herbstpaket der Europäischen Kommission (EK). In diesem identifiziert die EK wirtschaftspolitische Prioritäten, die anschließend im Rat der EU beraten werden. Im April übermitteln die Mitgliedstaaten ihre mittelfristige Haushaltsplanung und Reformfortschritte in den Stabilitäts- und Konvergenzprogrammen bzw. Nationalen Reformprogrammen. Auf Basis dieser Programme erstellt die EK einen Vorschlag für länderspezifische Empfehlungen des Rates der EU, auf dessen Basis der Rat der EU entsprechende Empfehlungen annimmt. Das Europäische Semester 2022 wurde gegenüber den bisherigen Abläufen weiter stark adaptiert, um es auf die Abwicklung der neu geschaffenen Aufbau- und Resilienzfazilität (RRF) abzustimmen. Beispielsweise veröffentlicht die EK ihre Länderberichte im Jahr 2022 nicht im Februar, sondern voraussichtlich erst Ende Mai (gemeinsam mit dem Vorschlag für länderspezifische Empfehlungen). Auch die halbjährliche verpflichtende Berichterstattung der Mitgliedstaaten und der EK zur Umsetzung der RRF wurde weitgehend in das Europäische Semester integriert. Einen laufenden Überblick über den Umsetzungsstand der RRF gibt das Aufbau- und Resilienzscoreboard der EK.
Im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität (RRF) stehen den EU‑Mitgliedstaaten insgesamt 338,0 Mrd. EUR für Zuschüsse und bis zu 385,8 Mrd. EUR für Darlehen zur Verfügung. Für die Aufteilung der Zuschüsse liegen bislang nur vorläufige Werte vor. Diese wird im Juni 2022 auf Basis der Wirtschaftsentwicklung 2020 und 2021 fixiert. Mit Ausnahme der Niederlande haben bereits alle Mitgliedstaaten die für einen Mittelabruf notwendigen Aufbau- und Resilienzpläne (ARP) eingereicht. Die 22 bisher durch den Rat der EU genehmigten Pläne umfassen Zuschüsse iHv 291 Mrd. EUR und Darlehen iHv 166 Mrd. EUR. Zwei weitere Pläne (Schweden und Bulgarien) wurden bereits von der EK positiv bewertet, müssen jedoch noch durch den Rat genehmigt werden. Im Jahr 2021 konnte eine Vorfinanzierung beantragt werden, aus der Österreich im vergangenen September bereits 450 Mio. EUR erhalten hat. Die weiteren Zahlungen sind an entsprechende Fortschritte bei der Umsetzung der ARP gebunden und anhand vereinbarter Zielwerte und Meilensteine nachzuweisen. Bis 19. April 2022 haben sechs Mitgliedstaaten Zahlungsanträge gestellt, auf deren Basis vier Mitgliedstaaten Auszahlungen erhalten haben. Auch Österreich dürfte 2022 den ersten Zahlungsantrag stellen, aus dem Einzahlungen iHv 700 Mio. EUR veranschlagt sind. Zur Finanzierung der RRF hat die EK bisher Anleihen iHv insgesamt rd. 91 Mrd. EUR begeben. Zusätzlich werden auch kurzfristige Finanzierungen (3 bzw. 6 Monate) aufgenommen.
Die EU‑Fiskalregeln, deren Prüfung ebenfalls im Rahmen des Europäischen Semesters erfolgt, ist aufgrund der im Frühjahr 2020 aktivierten allgemeinen Ausweichklausel weiterhin weitgehend ausgesetzt. Angesichts der wirtschaftlichen Folgen der russischen Invasion in die Ukraine hat die EK angekündigt, das grundsätzlich für Ende 2022 geplante Auslaufen der Ausweichklausel auf Basis ihrer Frühjahrsprognose im Mai 2022 neu zu prüfen. In ihren Anfang März veröffentlichten haushaltspolitischen Leitlinien für 2023 empfiehlt die EK den Übergang von einer stützenden fiskalischen Ausrichtung in den Jahren 2020 bis 2022 zu einer weitgehend neutralen fiskalischen Ausrichtung im Jahr 2023. Sie weist aber auch darauf hin, dass sich eine zu abrupte Konsolidierung negativ auf das Wachstum auswirken würde. Auch die haushaltspolitischen Leitlinien sollen auf Basis der Frühjahrsprognose aktualisiert werden, um die jüngsten Entwicklungen zu berücksichtigen.
Im Oktober 2021 wurde der durch die COVID‑19-Pandemie unterbrochene Konsultationsprozess zur wirtschaftspolitischen Steuerung neu gestartet, der unter anderem eine umfassende Überarbeitung der EU‑Fiskalregeln zum Ziel hat. Die EK hat im März einen zusammenfassenden Bericht der bereits abgeschlossenen Online-Konsultation veröffentlicht. Als nächsten Schritt hat sie angekündigt, Orientierungsdokumente für mögliche Änderungen vorzulegen, auf deren Basis rechtzeitig bis 2023 ein breiter Konsens über das weitere Vorgehen angestrebt wird. Ein Inkrafttreten der Änderungen bis 2023, wie es ursprünglich angestrebt wurde, scheint aus derzeitiger Sicht nicht wahrscheinlich.