Parlamentsarchiv - Blick ins Archiv 03.03.2023

Das Ende der Ersten Republik

Vor 90 Jahren führte eine Abstimmungspanne und eine daraus resultierende Geschäftsordnungskrise zum Ende der parlamentarischen Demokratie und der Ersten Republik.

Das Ende der Ersten Republik

Vor 90 Jahren führt eine Abstimmungspanne in einer Sondersitzung des Nationalrats zum Ende der parlamentarischen Demokratie und der Ersten Republik. Der Rücktritt aller drei Nationalratspräsidenten um 22 Uhr abends verursacht eine Geschäftsordnungskrise, die von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß genützt wird, um künftig ohne Parlament zu regieren. Das Parlamentsarchiv zeigt das Amtliche Protokoll der Sitzung des Nationalrates vom 4. März 1933 sowie die kürzlich wieder aufgefundenen Auszählungsergebnisse dieser letzten regulären Sitzung. Der Versuch des Dritten Präsidenten Dr. Straffner, die Sitzung neun Tage später fortzusetzen, um die Neuwahl eines Präsidiums durchzuführen, wird mit Einsatz der Polizei vereitelt. Erhalten ist das Protokoll dieser kurzen Sitzung vom 15. März 1933.

Amtliches Protokoll der 125. Sitzung des Nationalrates vom 4. März 1933 / PDF, 21586 KB

Transkript_Amtliches Protokoll der 125. Sitzung des Nationalrates vom 4. März 1933 / PDF, 97 KB

Protokoll vom 15. März 1933 / PDF, 3833 KB

Transkript: Protokoll vom 15. März 1933 / PDF, 70 KB

Einspruch durch Leopold Kunschak vom 16. März 1933 / PDF, 1610 KB

Transkript: Einspruch durch Leopold Kunschak vom 16. März 1933 / PDF, 66 KB

Sondersitzung des National­rats

In einer Sondersitzung des Nationalrats am 4. März 1933 wurden zwei Dringliche Anfragen an die Regierung behandelt. Diese thematisierten die Maßnahmen der Bundesbahnen gegen die Eisenbahnangestellten, die wenige Tage zuvor gegen die verzögerte Auszahlung ihrer Gehälter demonstriert hatten. In Folge standen drei Anträge zur Abstimmung: der Antrag der Abgeordneten König und Genossen (Sozialdemokratische Arbeiterpartei), in dem die Regierung zur Rücknahme der Maßnahmen aufgefordert wurde, und jener der Abgeordneten Dr. Schürff, Prodinger und Genossen (Nationaler Wirtschaftsblock, Großdeutsche Partei), die eine nachsichtige Behandlung der Streikenden und eine Gleichstellung der Eisenbahn- und Bundesbeamten verlangten. Der zuletzt eingebrachte Antrag stammte von den Abgeordneten Kunschak, Dewaty, Neustädter-Stürmer und Genossen (Christlichsoziale Partei, Landbund, Heimatblock), die die Übertragung der Untersuchung und der Sanktionierung der Streikenden an den Handelsminister forderten.

Abstimmung über die Anträge

Die Abstimmung über die beiden ersteren Anträge verlief zunächst komplikationslos: der Antrag der sozialdemokratischen Abgeordneten wurde mit 70:92 Stimmen abgelehnt. Über die drei Teile des Antrags Dr. Schürff stimmte der Nationalrat getrennt ab. Über jenen Teil, der eine nachsichtige Behandlung der Streikenden forderte, wurde namentlich abgestimmt. Er wurde mit 81:80 Stimmen knapp angenommen. Nach diesen Ergebnissen wurde die Abstimmung über den dritten Antrag (Abg. Kunschak) von sozialdemokratischen und großdeutschen Abgeordneten in Frage gestellt. Die christlichsozialen Abgeordneten sahen hingegen in der möglichen Annahme sowohl ihres Antrags und des großdeutschen keinen Widerspruch. Eine Sitzungsunterbrechung und Beratung des Präsidiums sollte nun eine Nachdenkpause bringen.

Unterbrechung und Kontrolle der Auszählung

Während dieser Unterbrechung wurde auch eine Kontrolle der Auszählung der Stimmzettel vorgenommen. Dabei zeigte sich, dass es zu Abstimmungsfehlern gekommen war: So hatte der Abgeordnete Paulitsch (CSP) mit zwei seiner Namenszettel gegen den Antrag König gestimmt. Daher wurde das Ergebnis auf 70:91 korrigiert. Bei der zweiten Abstimmung wurden zwei Namenszettel des Abgeordneten Abram (SdP) für den Antrag Dr. Schürff abgegeben. Es fehlte hingegen der Abstimmungszettel seines Parteikollegen Scheibein, der nachweislich an der Wahl teilgenommen hatte, aber offensichtlich einen Stimmzettel seines Sitznachbarn Abram verwendet hatte. In diesem Fall war eine Korrektur des äußerst knappen Auszählungsergebnisses nach Ansicht des Präsidenten Dr. Renner nicht erforderlich. Für die Ungültigkeit der Stimme Scheibeins sprachen sich hingegen die christlichsozialen Abgeordneten aus. Das hätte bei Stimmengleichheit (80:80) zur Ablehnung des Antrags geführt und zur Behandlung des Antrags Kunschak.

Drei Rücktritte

Aufgrund des anhaltenden Widerspruchs gegen die Entscheidung des Präsidiums legte Dr. Karl Renner (SdP) sein Amt als Präsident des Nationalrats nieder. Nach erfolglosem Vorschlag, die Abstimmung zu wiederholen, demissionierte auch der Zweite Präsident Dr. Ramek (CSP). Der Dritte Präsident Dr. Straffner (NWB) erklärte, nicht in der Lage zu sein, die Sitzung des Hauses weiterzuführen und legte ebenso sein Amt nieder.

Geschäftsordnungskrise

Dass vor Schluss der Sitzung kein neues Präsidium gewählt wurde, sollte sich als  verhängnisvoll für den weiteren Fortgang der parlamentarischen Demokratie der Ersten Republik erweisen. Die Geschäftsordnung sah für den Fall der dauernden Verhinderung oder des Rücktritts des Präsidiums keine ausdrückliche Regelung vor. Ein Versuch des Dritten Präsidenten, die unterbrochene Sitzung neun Tage später fortzusetzen, wurde durch die Regierung unter Einsatz der Polizei verhindert. Erst ein Jahr später wurde die Nationalratssitzung vom 4. März 1933 unter Ausschluss der Abgeordneten der mittlerweile verbotenen Sozialdemokratischen Partei offiziell beendet. Die autoritäre Regierung Dollfuß wandelte mit der sogenannten „Maiverfassung“ nun das Parlament in das „Haus der Bundesgesetzgebung“ um. Dessen Mitglieder wurden nicht gewählt, sondern von der Regierung ernannt. Ihnen fiel nur die Aufgabe zu, über Gesetzesvorlagen der Regierung zu beraten und diese zu bestätigen.