Noch vor Beendigung seines Rechtsstudiums wurde Karl Renner vom Dekan der Juristischen Fakultät, Eugen von Philippovich, darauf aufmerksam gemacht, dass sich der Direktor der Reichsratsbibliothek, Siegfried Lipiner, an ihn gewandt habe und "[…] er einen jungen Mann [suche], der im staatswissenschaftlichen Seminar gearbeitet, außer nationalökonomischen auch eingehende staatsrechtliche Kenntnisse erworben und politisches Interesse habe, vor allem aber ein flinker Arbeiter sei."
Seine Aufgabe würde darin bestehen, "den Buchbestand der Bibliothek neu aufzunehmen und einen Materienkatalog in Druck herstellen zu lassen. Die Arbeit würde einige Monate in Anspruch nehmen."
Die Aufgabe war für Karl Renner trotz ihrer Befristung vor allem deswegen interessant, weil sie die Perspektive bot, in den ordentlichen Staatsdienst aufgenommen zu werden.
Für einen Studenten aus bescheidenen Verhältnissen, in "wilder Ehe" lebend und mit großen politischen und publizistischen Ambitionen eine in ihrer Attraktivität nicht zu unterschätzende Gelegenheit, trotz des Wermutstropfens, dass es "selbstverständlich sei, dass [er] auf jede aktive politische Parteitätigkeit verzichte, da [er] dort allen Parteien in gleicher Weise zu dienen habe." Dieser Umstand ließ ihn selbst noch kurz vor dem aussichtsreichen Vorstellungsgespräch zaudern, sodass er um die bereits erwähnte Stunde zu spät erschien. Karl Renner dürfte Siegfried Lipiner trotz dieser ungünstigen Ausgangssituation voll und ganz überzeugt haben. Obwohl die Stelle bereits einem anderen Bewerber zugesagt worden war, entschied er sich für den jungen Studenten und zukünftigen "Baumeister der Republik".
Karl Renner begann seine Arbeit "ohne Vertrag mit einem Diurnum von vorläufig 80 Kronen (vierzig Gulden) monatlich, als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter [...], tägliche Dienstzeit von 9 bis 12 und von 2 bis 5 Uhr, Dienstantritt am 1. Dezember 1895."