Fachinfos - Judikaturauswertungen

Anonyme Kritik an PolitikerInnen in Online-Foren

Tageszeitung durch Verurteilung zur Offenlegung von NutzerInnen-Daten in Pressefreiheit verletzt (20. Jänner 2022)

EGMR 7.12.2021, 39378/15, Standard Verlagsgesellschaft mbH gg. Österreich

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wertete die von einigen Politikern sowie einer Landespartei erwirkte gerichtliche Aufforderung zur Offenlegung von NutzerInnen-Daten der Online-Diskussionsforen auf der Website einer österreichischen Tageszeitung als Verletzung der Pressefreiheit.

Sachverhalt

Die Standard Verlagsgesellschaft mbH (im Folgenden: derStandard) betreibt unter anderem ein Onlineportal (derStandard.at), auf welchem von der Redaktion Artikel veröffentlicht und Diskussionsforen dazu bereitgestellt werden. UserInnen können sich nach Registrierung durch Bekanntgabe ihres Vor- und Nachnamens sowie ihrer E-Mail-Adresse (und optional Postanschrift) mit Kommentaren an der Debatte beteiligen, wobei die Registrierungsdaten nicht öffentlich einsehbar sind und Dritten nur offengelegt werden, wenn dies rechtlich erforderlich ist. Die Kommentare werden vor Veröffentlichung von einer Software überprüft und freigegeben, bei Auffälligkeiten erfolgt eine manuelle Überprüfung.

In der Diskussion zu einem 2012 veröffentlichten Artikel betreffend das Vorgehen des damaligen Obmannes sowie des Klubobmannes der Freiheitlichen Partei in Kärnten (FPK) gegen Foren-NutzerInnen bzw. einem 2013 veröffentlichten Interview mit dem damaligen Generalsekretär und Abgeordneten zum Nationalrat der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) posteten insgesamt drei UserInnen, jeweils unter Verwendung eines Pseudonyms, sehr angriffig formulierte Kommentare. Um vor Gericht gegen die AutorInnen der Kommentare wegen (Ehren)Beleidigung sowie übler Nachrede vorgehen zu können, beantragten die Politiker und die FPK in beiden Fällen neben der Löschung der Kommentare auch die Bekanntgabe der Kontaktdaten der UserInnen. Während die Löschung der Kommentare jeweils zeitnah erfolgte, wurde die Offenlegung der NutzerInnen-Daten von derStandard insb. unter Berufung auf das Redaktionsgeheimnis abgelehnt.

In beiden Fällen wurden Zivilprozesse zur Offenlegung der Daten im Sinne der Host-Provider-Haftung angestrengt. Die Erstinstanzen wiesen die Klagen jeweils noch mit der Begründung ab, dass kein rechtswidriger Sachverhalt vorliege. Die Berufungsinstanzen jedoch sowie im Jahr 2014/2015 letztinstanzlich und rechtskräftig auch der Oberste Gerichtshof (OGH) befanden, dass die Kommentare grundsätzlich den Tatbestand der üblen Nachrede erfüllen (könnten) und somit ein überwiegendes berechtigtes Interesse an der Bekanntgabe der UserInnen-Daten vorlag; die Geltung des medienrechtlichen Quellenschutzes wurde verneint. Gegen die Verurteilungen, die Daten der Foren-UserInnen offenzulegen, erhob derStandard im August 2015 wegen behaupteter Verletzung im Recht auf freie Meinungsäußerung, insb. der Pressefreiheit, gemäß Art. 10 EMRK Beschwerde an den EGMR.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Der EGMR stellte fest, dass derStandard durch die Verurteilung zur Offenlegung der Daten von Foren-NutzerInnen in seinem Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit, insb. Pressefreiheit, verletzt wurde. Gerade für Medienunternehmen sei es essentiell, die zum Austausch von (kontroversen) Meinungen im Internet bedeutsame Anonymität von UserInnen auch selbst verteidigen zu können. Eine Verpflichtung zur Bekanntgabe von Daten könne eine abschreckende Wirkung („chilling effect“) auf Online-KommentatorInnen und damit einhergehend deren Beteiligung an der öffentlichen Debatte haben, was indirekt wiederum die Pressefreiheit von Medienunternehmen selbst beträfe.

Die Offenlegung von NutzerInnen-Daten sei zwar grundsätzlich durch die im österreichischen E-Commerce-Gesetz vorgesehene Host-Provider-Haftung gedeckt, welche insb. mit dem Schutz vor Rufschädigung ein rechtmäßiges Schutzziel verfolge. Die Berufungsgerichte sowie der OGH hätten allerdings in beiden Fällen zu Unrecht eine begründete Abwägung zwischen den Interessen der betroffenen Politiker und Partei sowie von derStandard unterlassen. Die ständige Rechtsprechung des OGH, dass bei Provider-Haftungsfällen eine Interessenabwägung nicht im Verfahren gegen den Provider, sondern im Verfahren gegen die als AutorIn für das Kommentar verantwortliche Person selbst durchzuführen sei, könne nicht die Erforderlichkeit einer zumindest prima facie-Prüfung entkräften.

Der EGMR rief die etablierten Kriterien der Interessenabwägung zwischen dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) sowie dem Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) in Erinnerung und hielt erneut fest, dass gegenüber PolitikerInnen die Grenze akzeptabler Kritik weitergehend ist. So seien die gegenständlichen Kommentare zwar ausfällig und respektlos, aber nicht als Hassrede, Anstiftung zu Gewalt oder sonst offensichtlich unrechtmäßig, sondern als politische Rede im Rahmen einer politischen Debatte über Themen von öffentlichem Interesse – konkret das Verhalten sowie frühere Äußerungen der betroffenen Politiker bzw. Partei – zu qualifizieren.

Dem von derStandard zitierten Quellenschutz aufgrund des Redaktionsgeheimnisses (§ 31 Mediengesetz) erteilte der EGMR hingegen eine Absage. Die innerstaatlichen Berufungsinstanzen sowie der OGH hatten jegliche Verbindung zwischen der journalistischen Tätigkeit von derStandard und der großteils automatisierten Veröffentlichung von UserInnen-Kommentaren in den Online-Foren verneint. Der EGMR anerkannte zwar die bedeutende Rolle der Diskussionsforen zur Erfassung von benutzergenerierten Inhalten im Gesamtgefüge des Nachrichtenauftritts von derStandard im Sinne der Pressefreiheit. Die Kommentare (bzw. Informationen zu ihren AutorInnen) seien trotzdem nicht vom Redaktionsgeheimnis umfasst, da sich die UserInnen damit (und somit den darin enthaltenen Meinungen und Informationen) nicht exklusiv an JournalistInnen, sondern an die gesamte Öffentlichkeit richten würden.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung (in englischer und französischer Sprache) sowie den Volltext der Entscheidung (in englischer Sprache).