Fachinfos - Judikaturauswertungen 08.01.2020

Bosnien und Herzegowina muss Wahlgesetz ändern

Sachverhalt

Irma Baralija, die Vorsitzende der Partei Naša stranka in der herzegowinischen Stadt Mostar, wandte sich im Juni 2018 an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und beschwerte sich darüber, dass es ihr als Bewohnerin von Mostar – infolge einer rechtlichen Lücke – faktisch nicht möglich sei, bei Kommunalwahlen in Mostar zu wählen bzw. zu kandidieren.

Das Verfassungsgericht von Bosnien und Herzegowina hatte im Jahr 2010 einzelne Bestimmungen des Wahlgesetzes und des Stadtstatuts von Mostar für verfassungswidrig erklärt, weil diese Bestimmungen die wahlberechtigten Bewohner/innen von Mostar ungleich behandelten und daher das gleiche Wahlrecht unverhältnismäßig beschränkten. Die Bestimmungen hatten nämlich vorgesehen, dass die Wahlberechtigten, die im Stadtzentrum von Mostar lebten, – im Unterschied zu den Bewohner/innen der anderen Stadtteile – nur eine und nicht zwei Kategorien von Gemeinderäten wählen durften. Eigentlicher Hintergrund dieser Differenzierung war der nach dem Bosnienkrieg in Umsetzung des Friedensabkommens von Dayton eingeleitete Versöhnungsprozess: Demnach solle das Wahlgesetz gewährleisten, dass die Macht zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen aufgeteilt wird und dass keine der Bevölkerungsgruppen im Gemeinderat über eine absolute Mehrheit verfügen kann.

Da die parlamentarische Versammlung von Bosnien und Herzegowina sowie der Stadtrat von Mostar die Verfassungswidrigkeiten, die das Verfassungsgericht im Jahr 2010 festgestellt hatte, nicht fristgerecht bereinigten, erklärte das Verfassungsgericht die entsprechenden Bestimmungen mit Wirkung vom 28. Februar 2012 für rechtsunwirksam. Dies hatte zur Folge, dass die in den Jahren 2012 und 2016 anstehenden Kommunalwahlen in Mostar nicht stattfinden konnten und der – infolge der Kommunalwahlen vom Jahr 2008 gewählte – Bürgermeister von Mostar de facto im Amt bleiben konnte.

Baralija behauptete in ihrer Beschwerde, dass diese rechtliche Lücke (= die Nichterlassung von Ersatzbestimmungen zur Durchführung der Kommunalwahlen in Mostar) zu einer Verletzung des allgemeinen Diskriminierungsverbotes gemäß Art. 1 des 12. Zusatzprotokolls zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (12. ZPEMRK) geführt habe: Dass es Baralija nicht möglich sei, bei Kommunalwahlen in Mostar zu wählen oder zu kandidieren, sei eine ungerechtfertigte Diskriminierung wegen ihres Wohnsitzes.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Der EGMR stellte eingangs das Verhältnis des allgemeinen Diskriminierungsverbotes gemäß Art. 1 12. ZPEMRK zum Diskriminierungsverbot gemäß Art. 14 EMRK dar: Während ersteres den Genuss eines jeden gesetzlich niedergelegten Rechtes ohne Diskriminierung gewährleiste, sei das zweite enger und beziehe sich nur auf den Genuss der in der EMRK festgelegten Rechte und Freiheiten.

Art. 1 12. ZPEMRK komme immer dann zum Tragen, wenn Personen in gleichen oder weitgehend ähnlichen Situationen ungleich behandelt werden und diese Ungleichbehandlung wegen eines der in Art. 1 12. ZPEMRK genannten persönlichen Merkmale – z.B. wegen „eines sonstigen Status“ (wie etwa des Wohnsitzes) – erfolgt. Eine Diskriminierung liege immer dann vor, wenn die Ungleichbehandlung ohne sachliche und angemessene Rechtfertigung erfolgt; die Beweislast, dass eine – von Beschwerdeführer/inne/n dargelegte – Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist, liege bei der Regierung.

Dem EGMR zufolge war im vorliegenden Fall unstrittig, dass Baralija über ein gesetzlich eingeräumtes aktives und passives Wahlrecht verfügte und die generellen Bedingungen für dessen Ausübung erfüllte. Ebenso sei unbestritten, dass Baralija – als Bewohnerin von Mostar – im Hinblick auf den Genuss dieses Rechts in einer gleichen oder weitgehend ähnlichen Situation wie Personen mit anderem Wohnsitz in Bosnien und Herzegowina sei. Dennoch differenziere das Wahlgesetz aufgrund des Wohnsitzes und führe so zu einer Ungleichbehandlung wegen eines sonstigen Status gemäß Art. 1 12. ZPEMRK.

Das Argument der Regierung von Bosnien und Herzegowina, wonach es gerechtfertigt sei, dass noch keine Ersatzbestimmungen zur Durchführung von Kommunalwahlen in Mostar erlassen worden sind, nahm der EGMR zur Kenntnis: Diesem Argument zufolge gebiete die Aufrechterhaltung des Friedens und die Erleichterung des Dialogs zwischen den ethnischen Gruppen, dass der Gemeinderat von Mostar auf Basis eines langfristig angelegten, effektiven Machtverteilungsmechanismus zusammengesetzt sei.

Im vorliegenden Fall liege allerdings eine rechtliche Lücke vor, die es der Beschwerdeführerin generell unmöglich mache, bei Kommunalwahlen zu wählen und/oder zu kandidieren. Da die letzten Kommunalwahlen in Mostar im Jahr 2008 stattgefunden haben, habe der Bürgermeister von Mostar seit 2012 (d.h. seit Eintritt der Rechtsunwirksamkeit der verfassungswidrigen Wahlbestimmungen) bloß ein „technisches Mandat“ inne und sei nicht ausreichend demokratisch legitimiert. Zudem könne er nicht alle Aufgaben der Kommunalverwaltung ausreichend erfüllen. Eine derartige Situation sei mit den – in der Präambel zur EMRK erwähnten – Konzepten eines wahrhaft demokratischen politischen Regimes („effective political democracy“) und der Vorherrschaft des Gesetzes („rule of law“) unvereinbar.

Dem EGMR zufolge sind die Schwierigkeiten, eine politische Einigung über einen tragfähigen Machtverteilungsmechanismus zu erzielen, keine sachliche und angemessene Rechtfertigung für die (seit längerer Zeit bestehende) Ungleichbehandlung der Bewohner/innen von Mostar. Dadurch, dass Bosnien und Herzegowina keine (Ersatz-)Regelungen für die Abhaltung von Kommunalwahlen in Mostar erlassen hat, habe der Staat seine staatliche Schutzpflicht aus Art. 1 12. ZPEMRK verletzt.

Da Baralija ihre Beschwerde nur erhob, weil Bosnien und Herzegowina eine höchstgerichtliche Entscheidung – nämlich jene des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2010 – nicht fristgerecht umgesetzt hat und ein solches Unterlassen generell geeignet ist, Situationen zu bewirken, in denen die Vorherrschaft des Gesetzes nicht länger gewährleistet ist, entschied der EGMR gemäß Art. 46 EMRK, dass Bosnien und Herzegowina das Wahlgesetz binnen sechs Monaten ab Rechtskraft seiner Entscheidung entsprechend ändern muss: Kommt der Staat dieser Verpflichtung nicht nach, sei das Verfassungsgericht von Bosnien und Herzegowina – gemäß der nationalen Rechtsordnung und der bisherigen Praxis des Verfassungsgerichts – berechtigt, die notwendigen Übergangsbestimmungen als einstweilige Anordnungen festzulegen.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung (jeweils in englischer Sprache).