Fachinfos - Judikaturauswertungen 07.02.2023

Bundestag muss frühestmöglich über Militäroperation informiert werden

Die Deutsche Bundesregierung ist verpflichtet, den Deutschen Bundestag frühzeitig und umfassend über das gesamte Politikfeld GASP/GSVP zu informieren (07. Februar 2023)

Dt. BVerfG 26.10.2022, 2 BvE 3/15

Der Zweite Senat des Deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat festgestellt, dass die Deutsche Bundesregierung die Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages in EU-Angelegenheiten in zwei Fällen verletzt hat. Sie hat den Bundestag nicht wie geboten umfassend und frühestmöglich über den Entwurf eines Krisenmanagementkonzepts für die EU-Militäroperation „EUNAVFOR MED Operation SOPHIA“ informiert und nicht nachvollziehbar dargelegt, dass ein von einer Bundestagsfraktion angefordertes Schreiben des türkischen Ministerpräsidenten an die Bundeskanzlerin im Zusammenhang mit der Migrationskrise nicht der Unterrichtungspflicht unterfällt. Die Rechtsauffassung der Bundesregierung, dass die GASP/GSVP kein Anwendungsfall der parlamentarischen Informations- und Mitwirkungsrechte in EU-Angelegenheiten sei, kann nicht aufrechterhalten werden.

Sachverhalt

Der Antragstellerinnen sind zwei Fraktionen des Deutschen Bundestages. Sie versuchten im Jahr 2015 vergeblich über die Verwaltung des Deutschen Bundestages an Informationen über das Krisenmanagementkonzept der Bundesregierung für einen möglichen EU-Militäreinsatz zum Vorgehen gegen Schleppertätigkeit im Mittelmeer zu gelangen. Ein solches Krisenmanagementkonzept dient der Konkretisierung einer allgemeinen Zielvorgabe, die der Europäische Rat oder der Rat für einen möglichen Militäreinsatz ausgibt. Darin werden unter anderem das Einsatzgebiet definiert und die einzelnen militärischen Aufgaben und Befugnisse beschrieben.

Der Entwurf dieses Konzepts lag der Bundesregierung nachweislich spätestens am 30. April 2015 vor. Am 18. Mai 2015 fasste der Rat der EU den Beschluss (GASP) 2015/778 über eine Militäroperation der Europäischen Union im südlichen zentralen Mittelmeer (European Union-led Naval Force Mediterranean Sea – EUNAVFOR MED). Der Beschluss sieht vor, dass die Operation im Einklang mit den politischen, strategischen und politisch-militärischen Zielen durchgeführt wird, die in dem vom Rat am 18. Mai 2015 gebilligten Krisenmanagementkonzept niedergelegt sind.

Am 21. Mai 2015 ermöglichte das Auswärtige Amt den Mitgliedern des Auswärtigen Ausschusses, des Verteidigungsausschusses und des Ausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union, in der Geheimschutzstelle des Bundestages Einsicht in das Krisenmanagementkonzept zu nehmen. Am 16. September 2015 befasste die Bundesregierung den Bundestag mit der deutschen Beteiligung an der Operation und erbat seine Zustimmung für den Einsatz der Deutschen Marine. Diese wurde am 1. Oktober 2015 mit 449 von 568 abgegebenen Stimmen erteilt.

In weiterer Folge forderte eine der beiden Antragstellerinnen ein Schreiben des damaligen türkischen Ministerpräsident Davutoǧlu an Staats- und Regierungschefs der EU bei der Bundestagsverwaltung an, das im Zusammenhang mit der Migrationskrise im Mittelmeer stand. Die Fraktion hatte über Medienberichte Kenntnis davon erlangt. Am selben Tag bat die Bundestagsverwaltung die Bundesregierung um dessen Übermittlung. Am 5. Oktober 2015 teilte das Bundeskanzleramt mit, dass es sich bei dem in Rede stehenden Schreiben um ein persönlich an die Bundeskanzlerin gerichtetes Schreiben des Regierungschefs eines Drittstaates handle und dass die Korrespondenz der Bundeskanzlerin mit anderen Regierungschefs generell nicht Gegenstand der Unterrichtung des Bundestages sei. Andernfalls werde die Funktionsfähigkeit der Bundesregierung insgesamt erheblich beeinträchtigt.

Die Antragstellerinnen begehrten daraufhin beim BVerfG im Wege eines Organstreitverfahrens die Feststellung, dass die Bundesregierung die Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages aus Art. 23 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz (GG) verletzt habe.

Entscheidung des Deutschen Bundesverfassungsgerichts

Das BVerfG führte in seiner Entscheidung über die zulässigen Teile der Anträge aus, dass Art. 23 GG die traditionelle Aufgabenverteilung zwischen Exekutive und Legislative im Bereich der auswärtigen Gewalt für die Angelegenheiten der EU neu geordnet und dem Deutschen Bundestag weitreichende Mitwirkungsrechte eingeräumt hat.

Grundsätzlich sei in Anknüpfung an eine traditionelle Staatsauffassung davon auszugehen, dass der Regierung im Bereich der auswärtigen Politik ein weit bemessener Spielraum zu eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung zukomme und die Rolle des Parlaments schon aus Gründen der Funktionsgerechtigkeit in diesem Bereich beschränkt sei. Dies beruhe auf der Annahme, dass institutionell und auf Dauer allein die Regierung in hinreichendem Maße über die personellen, sachlichen und organisatorischen Möglichkeiten verfüge, auf wechselnde äußere Lagen zügig und sachgerecht zu reagieren und so die staatliche Aufgabe, die auswärtigen Angelegenheiten verantwortlich wahrzunehmen, bestmöglich zu erfüllen.

In Anbetracht der mit der Europäisierung des grundgesetzlichen Institutionengefüges verbundenen Gewichtsverlagerung zugunsten der Exekutive müssten aber im Bereich der EU-Mitwirkung andere Maßstäbe gelten. Die in Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG verankerte Pflicht der Bundesregierung zur umfassenden und frühestmöglichen Unterrichtung sei daher Ausdruck der gemeinsamen Verantwortung von Exekutive und Legislative für Angelegenheiten der EU und Voraussetzung für eine effektive Wahrnehmung der dem Bundestag zukommenden Mitwirkungsrechte. Ihre Erfüllung habe den Informationsbedürfnissen des Bundestages in sachlicher, zeitlicher und förmlicher Hinsicht zu genügen.

Nach der Rechtsprechung des BVerfG gehörten auch völkerrechtliche Verträge zu den Angelegenheiten der EU, wenn sie in einem Ergänzungs- oder sonstigen besonderen Naheverhältnis zum Recht der EU stünden. Entscheidend dafür sei eine Gesamtbetrachtung der Umstände, einschließlich geplanter Regelungsinhalte, -ziele und -wirkungen, die sich, je nach Gewicht, einzeln oder in ihrem Zusammenwirken als ausschlaggebend erweisen könnten. Die Beteiligung des Bundestages und des Bundesrates solle gewährleisten, dass diese über ihre Verantwortung für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union gemäß Art. 23 Abs. 1 GG hinaus auch am Vollzug des Integrationsprogramms mitwirken könnten. Daraus ergebe sich eine Verpflichtung der Bundesregierung zur umfassenden und frühestmöglichen Unterrichtung auch für Maßnahmen in den Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik GSVP.

Diese Verpflichtung der Bundesregierung gemäß Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG gelte gegenüber dem Bundestag als Ganzem und werde nur erfüllt, wenn die Informationen allen Abgeordneten und damit auch der Öffentlichkeit frei zugänglich gemacht würden. Es sei Sache des Bundestages selbst, dafür Sorge zu tragen, dass die ihm übermittelten Informationen einer effektiven parlamentarischen Willensbildung zugeführt werden. Eine Begrenzung des Adressatenkreises stelle eine nur eingeschränkte Erfüllung der Informationsverpflichtung dar. Auch eine klassifizierte werde den Anforderungen des Grundgesetzes insoweit nicht gerecht, weil die Information des Parlaments zugleich dem im Demokratieprinzip verankerten Grundsatz parlamentarischer Öffentlichkeit diene.

Grenzen der Unterrichtungspflicht der Bundesregierung gemäß Art. 23 Abs. 2 GG könnten sich zwar grundsätzlich aus dem Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung oder dem Staatswohl ergeben; wenn die Bundesregierung ihre Informationspflichten aus diesen Gründen, insbesondere des (militärischen) Geheimnisschutzes oder des Staatswohls, nicht umfassend erfüllen wolle, müsse sie sich gegenüber dem Deutschen Bundestag darauf berufen und ihren Verzicht ausreichend begründen. Ein Nachschieben von Gründen erst im Organstreitverfahren vor dem BVerfG verfehle den Zweck des Begründungserfordernisses, den Bundestag in die Lage zu versetzen, die Gründe der Unterrichtungsverweigerung nachzuvollziehen und die Erfolgsaussichten einer Inanspruchnahme verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes abzuschätzen.

Nach diesen Maßstäben habe die Bundesregierung den Bundestag im Hinblick auf das Krisenmanagementkonzept in seinen Rechten gemäß Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt, indem sie es unterlassen habe, den ihr bereits am 30. April 2015 vorliegenden Entwurfstext an das Parlament zu übermitteln. Die Durchführung der in Frage stehenden Operation sei Teil der Europäischen Migrationsagenda und damit eines umfassenden europäischen Gesamtansatzes. Organe der EU arbeiteten das Krisenmanagementkonzept aus, wobei das Konzept unmittelbar der Verwirklichung von Zielen der Union diene. Auch seine Umsetzung erfolge durch die EU. Schließlich sei die Mission auf die Mitgliedstaaten der Europäischen Union begrenzt gewesen, Drittstaaten hätten aber zur Beteiligung eingeladen werden können.

Die Bundesregierung sei daher verpflichtet gewesen, den Bundestag über das Konzept zu informieren, sobald es in ihren Einflussbereich gelangt gewesen sei. Dabei hätten wegen der weitreichenden verfassungsrechtlichen und politischen Bedeutung des Vorhabens hohe Anforderungen an Qualität, Quantität, Aktualität und Verwertbarkeit der Unterrichtung über die Verhandlungen darüber bestanden.

Die Verletzung der Unterrichtungspflicht habe darüber hinaus über den 21. Mai 2015 hinaus fortbestanden, weil ab diesem Zeitpunkt nur die Abgeordneten des Auswärtigen Ausschusses, des Verteidigungsausschusses und des Ausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union hätten Einsicht nehmen können; und dies auch nur in der Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestages. Eine Übermittlung an alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages sei indes nicht erfolgt.

Die Bundesregierung habe den Bundestag auch im Hinblick auf das Schreiben des türkischen Ministerpräsidenten Davutoǧlu vom 23. September 2015 in seinen Rechten aus Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt. Sie habe es unterlassen, nachvollziehbar darzulegen, dass das Schreiben keine Angelegenheit der Europäischen Union betrifft und damit der Unterrichtungspflicht nach Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG nicht unterfällt. Im Übrigen habe die Bundesregierung nicht nachvollziehbar dargelegt, dass verfassungsrechtliche Gründe der Übermittlungspflicht entgegengestanden hätten. Die lediglich pauschalen Ausführungen, dass es sich um ein an die Bundeskanzlerin persönlich gerichtetes Schreiben eines Regierungschefs handele, das generell nicht den Unterrichtungspflichten unterfalle, da durch die Durchbrechung der Vertraulichkeit dieser Korrespondenz die Funktionsfähigkeit der Bundesregierung insgesamt erheblich beeinträchtigt wäre, genüge insoweit nicht.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung.