Fachinfos - Judikaturauswertungen 08.07.2021

COVID-19 und Bundestagswahl 2021

Herabsetzung des Unterschriftenquorums ist nicht einzige Option des Gesetzgebers zur Herstellung von Chancengleichheit. Deutsches BVerfG 13.4.2021, 2 BvE 1/21, 2 BvE 3/21 (8. Juli 2021)

Sachverhalt

Zwei nicht im Deutschen Bundestag (BT) vertretene Parteien (MLPD und Bayernpartei e.V.) beantragten beim Deutschen Bundesverfassungsgericht (Dt. BVerfG) die Feststellung, dass der BT ihr im Grundgesetz (GG) verbürgtes Recht auf Chancengleichheit der politischen Parteien verletzt habe, indem er trotz der pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen die geltenden Regelungen zur Vorlage von Unterstützungserklärungen für Wahlvorschläge für die Bundestagswahl im September 2021 weder ausgesetzt noch die erforderliche Zahl an Unterstützungserklärungen gesenkt habe. Sie verwiesen insbesondere auf einschlägige Entscheidungen der Verfassungsgerichtshöfe von Nordrhein-Westfalen (VerfGH NRW 7. 7.2020, 88/20), Baden-Württemberg (VerfGH BW 9.11.2020, 1 GR 101/20) und Berlin (VerfGH Berlin 17.3.2021, 4/21, 20/21, 20 A/21). In diesen Entscheidung war eine Senkung des Unterschriftenquorums um 50% bzw. 60% und schließlich um 70-80% für notwendig erachtet worden (siehe zu letzteren Judikaten die Auswertungen im 4. Quartal 2020 bzw. im 1. Quartal 2021).

Entscheidung des Deutschen Bundesverfassungsgerichts

Das Dt. BVerfG verwarf die Anträge mangels ausreichender Begründung. Die Antragstellerinnen hätten zwar zutreffend dargelegt, dass die gesetzliche Verpflichtung wahlwerbender Parteien, die nicht im BT vertreten sind, mit dem Wahlvorschlag Unterstützungsunterschriften vorzulegen, in das Recht auf Chancengleichheit der Parteien eingreife. Auch hätten die Antragstellerinnen ausreichend dargelegt, dass die Sammlung von Unterstützungsunterschriften für die Bundestagswahl 2021 durch die pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen deutlich erschwert sei. Jedoch hätten sich die Antragstellerinnen nicht mit der Vorjudikatur des Dt. BVerfG auseinander gesetzt. Außerdem hätten sie den gegebenen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers und die Unterschiede zwischen Bundeswahlrecht und Landeswahlrecht nicht beachtet.

Nach ständiger Rechtsprechung des Dt. BVerfG seien Unterstützungsunterschriften grundsätzlich ein gerechtfertigtes Instrument, um die Ernsthaftigkeit eines Wahlvorschlages zu messen und der Gefahr der Stimmenzersplitterung zu begegnen. Das Dt. BVerfG verwies dazu insbesondere auf seine Judikate aus 1956 und 1961, wonach ein Unterschriftenquorum von 0,25% resp. 0,18 bis 0,26% der Wahlberechtigen verfassungsrechtlich unbedenklich ist. Das aktuelle Bundeswahlgesetz bleibe (für Landeslisten) mit 0,1% der Wahlberechtigten bzw. max. 2.000 Unterstützungsunterschriften deutlich hinter dieser Obergrenze zurück. Der vom Dt. BVerfG unter normalen Umständen eingeräumte Spielraum sei also derzeit bei weitem nicht ausgeschöpft.

Gemäß dem Dt. BVerfG könnten sich aus dem GG (und dem Unionsrecht) Gesetzgebungspflichten ergeben, jedoch gäbe das GG gerade für das Wahlsystem nur Grundzüge vor und überlasse die konkrete Ausgestaltung dem Bundesgesetzgeber. Auf die durch die Pandemie veränderten Umstände könne der Gesetzgeber daher auf unterschiedliche Weise reagieren. Die Antragstellerinnen hätten es jedoch verabsäumt, darzulegen, warum nur eine Senkung des Unterschriftenquorums in Betracht kommt, also andere Erleichterungen wie ein Verzicht auf eine eigenhändige Unterschrift oder die Möglichkeit zu digitalen Erklärungen ausscheiden. Außerdem sei auch relevant, wie lange Unterstützungserklärungen gesammelt werden könnten. Für die Bundestagswahl am 26. September 2021 könnten konkret vom 30. Juni 2020 bis zum 19. Juli 2021, also über zwölf Monate Unterstützungsunterschriften gesammelt werden. Für die Berliner Wahlen am 26. September 2021 hingegen habe erst ab 27. September 2020 gesammelt werden können. Ergänzend wies das BVerfG noch darauf hin, dass in Baden-Württemberg das in Prüfung gezogene durchschnittliche Unterschriftenquorum bei 0,17% gelegen hatte, also deutlich höher war als das auf Bundesebene mit 0,1% festgelegte. Auch sei auf Bundesebene im Unterschied zum Wahlrecht in Baden-Württemberg ein Zwei-Stimmen-System gegeben, welches Auswirkungen auf den Grad der Beeinträchtigungen durch Quoren habe. Auf all dies sei in der Begründung der Anträge nicht eingegangen worden.

Ausführungen, warum ein völliger Verzicht auf Unterstützungserklärungen für Wahlvorschläge, also ein Aussetzen der Regelungen, verfassungsrechtlich geboten sei, fehlten laut Dt. BVerfG gänzlich.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung.

Es kam in Deutschland ungeachtet des Urteils im Juni 2021 zu einer Gesetzesänderung: Mit der am 9. Juni 2021 verkündeten Änderung des Bundeswahlgesetzes (BGBl I S. 1482) wurde die Zahl der für Landeslisten und Kreiswahlvorschläge erforderlichen Unterstützungsunterschriften auf jeweils ein Viertel (25%) reduziert (z.B. von 2000 auf 500). Die Regelung trat am 10. Juni 2021 in Kraft.