Fachinfos - Judikaturauswertungen 07.02.2023

Deutscher Bundestag: Parlamentarisches Fragerecht verletzt

Die Verweigerung der Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage zur Zahl der im Ausland tätigen Verfassungsschutzbediensteten durch die Bundesregierung ist verfassungswidrig (07. Februar 2023)

Dt. BVerfG 14.12.2022, 2 BvE 8/21

Der Zweite Senat des Deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat festgestellt, dass die Weigerung der deutschen Bundesregierung, die Zahl der in den Jahren 2015 bis 2019 im Ausland tätigen Bediensteten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) an einen Abgeordneten des Deutschen Bundestages bekanntzugeben, das parlamentarische Fragerecht des antragstellenden Abgeordneten gemäß Art. 38 Abs. 1 zweiter Satz Grundgesetz (GG) verletzt habe. Rechtfertigungsgründe für die unterlassene Auskunft lägen nicht vor, weil insbesondere eine Gefährdung des Staatswohls weder hinreichend dargelegt worden noch sonst ersichtlich sei.

Sachverhalt

Der Antragsteller, ein Abgeordneter des Deutschen Bundestages, ersuchte die Bundesregierung im Rahmen einer schriftlichen Einzelfrage gemäß § 105 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GO-BT) iVm Anlage 4 zur GO-BT um Bekanntgabe der Zahl der in den Jahren 2015 bis 2019 im Ausland tätigen Bediensteten des BfV. Mit mehreren Schreiben teilte darauf der parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat im Namen der Bundesregierung mit, dass die Beantwortung der parlamentarischen Anfrage nicht erfolgen könne, und zwar auch nicht eingestuft als geheimhaltungsbedürftige Verschlusssache. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die begehrten Informationen in besonderem Maße das Staatswohl beträfen und die Arbeitsmethoden bzw. Vorgangsweisen der Sicherheitsbehörden im Hinblick auf deren künftige Aufgabenerfüllung besonders schutzwürdig seien (vgl. Bundestagsdrucksache 19/25159, Frage Nr. 32).

Der Antragsteller begehrte darauf beim BVerfG im Wege des Organstreitverfahrens die Feststellung, dass ihn die Bundesregierung durch die unterlassene Auskunft in seinem parlamentarischen Fragerecht gemäß Art. 38 Abs. 1 zweiter Satz GG verletzt habe.

Entscheidung des Deutschen Bundesverfassungsgerichts

Das BVerfG führte in seiner Entscheidung über den – zulässigen – Antrag aus, dass aus Art. 38 Abs. 1 zweiter Satz und Art. 20 Abs. 2 zweiter Satz GG ein Frage- und Informationsrecht des Bundestages folge, dem grundsätzlich eine Antwortpflicht der Bundesregierung gegenüberstehe. Dieses Recht des Bundestages bzw. der einzelnen Abgeordneten sei allerdings nicht grenzenlos. Das parlamentarische Fragerecht sei verfassungsrechtlich begrenzt durch den Zuständigkeitsbereich der Bundesregierung (der hier betroffen sei), den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung und die Grundrechte Dritter (die hier nicht berührt seien) sowie das Staatswohl. Wenn die Bundesregierung Auskünfte ganz oder teilweise verweigere oder nur in nicht-öffentlicher Form erteile, habe sie dies zudem nachvollziehbar zu begründen.

Gemessen an diesen Maßstäben habe die Bundesregierung die Verweigerung der Auskunftserteilung im vorliegenden Fall jedenfalls nicht hinreichend begründet und dadurch das parlamentarische Fragerecht des Antragstellers gemäß Art. 38 Abs. 1 zweiter Satz GG verletzt:

Keine Gefährdung des Staatswohls (Rz. 82 ff.)

Die Verweigerung der Beantwortung der parlamentarischen Anfrage aus Gründen des Staatswohls – wobei als ein solcher Grund im vorliegenden Fall ausschließlich das öffentliche Interesse an der Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Verfassungsschutzes in Betracht komme – sei nicht gerechtfertigt. Es sei weder hinreichend dargelegt worden noch sonst ersichtlich, dass die Erteilung der begehrten Auskunft zu einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des BfV führen könnte. Die Anfrage des Antragstellers habe sich ausschließlich auf die Mitteilung der Gesamtzahl der im genannten Zeitraum im Ausland tätigen Bediensteten des BfV sowie eine Bewertung im Hinblick auf die Aufgabenverteilung zwischen BfV und Bundesnachrichtendienst (BND) gerichtet. Eine Spezifizierung der erfragten Zahl der Auslandsbediensteten – etwa nach Einsatzorten bzw. -regionen, Einsatzzeiten, Tätigkeitsschwerpunkten oder sonstigen Merkmalen – habe der Antragsteller nicht gefordert. Der Einwand der Bundesregierung, dass ausländische Nachrichtendienste Informationen sammelten, um diese wie ein „Mosaik“ zu einem aussagekräftigen Gesamtbild zusammenzuführen, und die hier begehrte Auskunft ein entscheidendes Teilstück sein könnte, um sicherheitsrelevante Rückschlüsse auf die Tätigkeit des BfV im Ausland ziehen zu können, stehe dem nicht entgegen. Diese abstrakte Überlegung könne die Gefahr einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des BfV im Falle der Beantwortung der parlamentarischen Anfrage aber nicht begründen, zumal mit einer solchen Argumentation ohne hinreichende weitere Darlegungen jegliche Auskunft verweigert werden könnte.

Vor diesem Hintergrund würden die behaupteten Geheimhaltungsinteressen den parlamentarischen Informationsanspruch nicht in einem Maße überwiegen, dass von einer Beantwortung der parlamentarischen Anfrage – gegebenenfalls in eingestufter Form – habe abgesehen werden dürfen. Die vorgebrachte „Mosaiktheorie“ hätte nämlich ein nahezu völliges Leerlaufen des parlamentarischen Fragerechts im Sinne einer Bereichsausnahme für die Tätigkeit von Nachrichtendiensten zur Folge. Eine solche Bereichsausnahme widerspreche jedoch dem Gebot, bei einer Kollision von Geheimhaltungsinteressen mit dem parlamentarischen Informationsanspruch einen Ausgleich im Wege der praktischen Konkordanz herbeizuführen.

Schließlich habe das parlamentarische Fragerecht auch nicht hinter sonstigen Möglichkeiten parlamentarischer Kontrolle der Nachrichtendienste zurückzutreten. So sei insbesondere das Parlamentarische Kontrollgremium lediglich ein zusätzliches Instrument parlamentarischer Kontrolle, das sonstige Informationsrechte nicht verdränge. Und darüber hinaus stehe auch die bloße Erweiterung des Kreises der Geheimnisträger:innen der Beantwortung der parlamentarischen Anfrage nicht entgegen. Das Staatswohl sei im parlamentarischen Regierungssystem des GG nicht allein der Bundesregierung, sondern dem Bundestag und der Bundesregierung gemeinsam anvertraut. Daher komme bei geheimhaltungsbedürftigen Informationen die Berufung auf das Staatswohl gerade gegenüber dem Bundestag in der Regel dann nicht in Betracht, wenn beiderseits wirksame Vorkehrungen gegen das Bekanntwerden von Dienstgeheimnissen getroffen wurden, was von der Bundesregierung nicht in Abrede gestellt worden sei.

Keine hinreichende Begründung (Rz. 107 ff.)

Die Verweigerung der Beantwortung der parlamentarischen Anfrage genüge zudem – unabhängig von den nicht vorliegenden Rechtfertigungsgründen – nicht den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen. So beschränke sich die Begründung der Bundesregierung letztlich auf die bloße Behauptung, die Mitteilung der Gesamtzahl der im genannten Zeitraum im Ausland tätigen Bediensteten des BfV begünstige die Entwicklung von Abwehrstrategien ausländischer Nachrichtendienste und gefährde dadurch den Einsatzerfolg. Konkrete Umstände, die die Gefahr einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des BfV im Falle der Beantwortung der Anfrage nachvollziehbar erscheinen ließen, seien aber nicht vorgebracht worden. Die Begründung verharre auf einer abstrakten, über allgemeine Behauptungen nicht hinausgehenden Ebene und versetze den antragstellenden Abgeordneten nicht in die Lage, die Plausibilität der Antwortverweigerung eigenständig zu beurteilen.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung.