Fachinfos - Judikaturauswertungen 12.04.2021

Deutschland: Aussageverweigerung vor U-Ausschuss

V-Mann-Führer muss nicht vor einem Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages aussagen. Dt. BVerfG 16.12.2020, 2 BvE 4/18. (12. April 2021)

Sachverhalt

Der Deutsche Bundestag hat am 1. März 2018 einen Untersuchungsausschuss eingesetzt, um die Hintergründe des Anschlags vom 19. Dezember 2016 auf einem Berliner Weihnachtsmarkt aufzuklären. An diesem Tag hatte der Attentäter Anis Amri einen Sattelzug in eine Menschenmenge gesteuert. Im Zuge der Ermittlungen ergaben sich Anhaltspunkte für Versäumnisse der Sicherheitsbehörden. Es wurde bekannt, dass Amri bereits kurz nach seiner illegalen Einreise in die Bundesrepublik Deutschland 2015 als gewaltbereiter Islamist eingeschätzt und im Februar 2016 als Gefährder eingestuft worden war. Der Untersuchungsausschuss sollte den Erkenntnisstand der Sicherheitsbehörden über Amri und sein Umfeld vor dem Anschlag nachvollziehen, ihre Arbeit und jene der übergeordneten Stellen und politischen Verantwortlichen ermitteln. Eine weitere Frage war, ob und wie Amri selbst, seine Kontaktpersonen und möglichen Mittäter/innen und Unterstützer/innen von den Sicherheits- oder Strafverfolgungsbehörden als Informationsquellen oder Nachrichtenermittler/innen genutzt wurden und ob mit Rücksicht darauf von Maßnahmen gegen mutmaßliche Beteiligte am Attentat abgesehen wurde.


Nach einem Bericht der Tageszeitung „Die Welt“ vom 25. April 2018, wonach das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) mindestens eine Verbindungsperson („V-Person“) in einer regelmäßig von Amri besuchten Moschee geführt habe, fasste der Untersuchungsausschuss einen Beweisbeschluss, mit dem die Benennung von Mitarbeiter/inne/n des BfV verlangt wurde, die mit der V-Person-Führung in diesem Fall befasst waren.

Das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat erklärte, dass erhebliche rechtliche Bedenken gegen eine solche Nennung sprächen. Es verwies darauf, dass die Ermittlung in einem besonders gewaltbereiten Umfeld erfolge und damit unmittelbare Gefahren für den V-Person-Führer bestünden. Zugleich bot das Bundesministerium den Beschaffungsleiter der Abteilung „Islamismus und Islamistischer Terrorismus“ als Zeugen an. Drei Mitglieder des Untersuchungsausschusses, die eine qualifizierte Mehrheit im Sinne des Untersuchungsausschussgesetzes bilden, bezweifelten diese Einschätzung und verwiesen auf die Sicherheitsmaßnahmen bei einer Befragung im Untersuchungsausschuss. Das Bundesministerium ergänzte seine Begründung dahingehend, dass die Vernehmung eines V-Person-Führers einer laufenden Quellenoperation erhebliche Auswirkungen auf die Arbeits- und Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste habe, und dass die vorgeschlagenen Geheimschutzmaßnahmen daher nicht ausreichen würden.

Da eine Klärung der Frage auf politischem Weg nicht möglich war, leiteten drei Mitglieder des Untersuchungsausschusses sowie die Fraktionen der FDP, der Linken und des Bündnis 90/Die Grünen ein Organstreitverfahren beim Deutschen Bundesverfassungsgericht (Dt. BVerfG) ein.

Entscheidung des Deutschen Bundesverfassungsgerichts

Das Dt. BVerfG hat festgestellt, dass der Antrag unbegründet ist, und dass die Weigerung des Bundesministeriums, den für die Führung der menschlichen Quellen zuständigen Mitarbeiter zu benennen, das Untersuchungsrecht des Bundestages gemäß Art. 44 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) nicht verletzt.

Das parlamentarische Untersuchungsrecht unterliege Grenzen, die ihren Grund in der Verfassung haben müssen, und die sich aus dem Untersuchungsauftrag, dem Grundsatz der Gewaltenteilung, dem Staatswohl und den Grundrechten ergäben. Die Bundesregierung unterliege von Verfassungs wegen einer Begründungspflicht, wenn sie das Recht in Anspruch nehme, einem Untersuchungsausschuss Beweismittel aus einem der genannten Gründe vorzuenthalten.

Im konkreten Fall würden vor allem das Staatswohl, konkret in Form der Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste, aber auch die Grundrechte Dritter, nämlich jene der V-Personen, als Grenzen des Beweiserhebungsrechts schlagend. Gerieten parlamentarisches Aufklärungsinteresse und Geheimhaltungsinteressen von Verfassungsrang in Konflikt, müssten sie derart in Ausgleich gebracht werden, dass beide soweit wie möglich ihre Wirkung entfalteten. In diesem Zusammenhang erinnert das Dt. BVerfG ausdrücklich daran, dass das Staatswohl im parlamentarischen Regierungssystem dem Bundestag und der Bundesregierung gemeinsam anvertraut sei. Eine Berufung auf das Staatswohl könne daher in der Regel nur dann in Betracht kommen, wenn der Bundestag nicht den für notwendig erachteten Geheimschutz gewährleisten könne. Das müsse genau und nachvollziehbar begründet werden. Im vorliegenden Fall seien insbesondere auch die Umstände, unter denen die Nachrichtendienste tätig werden, besonders zu berücksichtigen.

Nach Auffassung der Mehrheit der Mitglieder des 2. Senats des Dt. BVerfG durfte der Bundesminister die Nennung des zuständigen Mitarbeiters verweigern, da die bei einer Ladung und Zeugenvernehmung zu erwartenden Nachteile und Gefahren für die Grundrechte der V-Person und des V-Person-Führers sowie jene für die Aufgabenwahrnehmung und Funktionsfähigkeit des BfV zu hoch seien. Zwar könne eine Gefährdung durch die Veröffentlichung geheimhaltungsbedürftiger Informationen weitgehend ausgeschlossen werden. Wenn der V-Person-Führer jedoch zu Einzelheiten der Quellenoperationen im Umfeld der konkreten Moschee befragt würde, könnten seine äußeren Merkmale und seine inhaltlichen Angaben dennoch einen Rückschluss auf seine Identität ermöglichen. Diese Möglichkeit ergebe sich insbesondere, weil das Milieu, in dem dieser tätig sei, in Kleinstgruppen organisiert und stark abgeschottet sei. Darin werde fortwährend mit „verräterischen Bestrebungen“ gerechnet, gegen die man sich wehren müsse. Zudem gebe es eindeutige Erkenntnisse, dass es in der beobachteten Gruppe eine hohe Gewaltbereitschaft gebe, die sich insbesondere gegen jene richte, die mit staatlichen Stellen kooperieren. Damit würden sowohl die konkret involvierten Personen als auch die nachrichtendienstliche Tätigkeit in diesem Milieu besonders gefährdet. Vor diesem Hintergrund müsse das Aufklärungsinteresse des Parlaments hinter die Belange des Staatswohls zurücktreten, zumal durch eine Vernehmung unmittelbarer Dienstvorgesetzter des V-Person-Führers dem Aufklärungsinteresse des Untersuchungsausschusses in gewissem Umfang Rechnung getragen worden sei.

Der Richter Peter Müller hat sich dem Ergebnis der Senatsmehrheit nicht angeschlossen und eine abweichende Meinung erstattet. Er geht von einer verfassungsrechtlich nicht fundierten Überbewertung der Geheimhaltungsinteressen aus. Der Untersuchungsausschuss könne aufgrund der vorgelegten Begründung nicht nachvollziehen, woraus sich die konkrete Gefährdung ergebe. Dies folge für ihn insbesondere daraus, dass auch das Dt. BVerfG das Bundesministerium zweimal um ergänzende Informationen habe ersuchen müssen, um zu seiner Entscheidung gelangen zu können.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung des Deutschen Bundestages, die Pressemitteilung des Dt. BVerfG und den Volltext der Entscheidung.