Fachinfos - Judikaturauswertungen 07.01.2025

Deutschland: Fünf-Prozent-Sperrklausel verstößt gegen das Grundgesetz

Dt. BVerfG 30.7.2024, 2 BvF 1/23 u.a.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat entschieden, dass die im Juni 2023 in Kraft getretene Wahlrechtsreform 2023, mit der eine feste Bundestagsgröße (das heißt eine feste Anzahl von 630 Sitzen) durch das System der Zweitstimmendeckung festgelegt wurde, mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Die Beibehaltung der Fünf-Prozent-Sperrklausel sei zwar nicht grundsätzlich, aber in ihrer konkreten Ausgestaltung verfassungswidrig, nämlich insbesondere aufgrund der gleichzeitigen Abschaffung der Grundmandatsklausel und der Anwendung des Zweitstimmendeckungsverfahrens.

Sachverhalt

Im März 2023 wurde in Deutschland eine Wahlrechtsreform mit dem Ziel der Verkleinerung des Deutschen Bundestages beschlossen. Bisher galt eine Regelgröße von 598 Sitzen, jedoch war die tatsächliche Größe aufgrund der vorgesehenen Überhang- und Ausgleichsmandate schwankend. Nach der letzten Wahl hatte der Bundestag 736 Abgeordnete, für die Zukunft wurde die Zahl der Sitze mit 630 fixiert.

Wie bisher wird mit der Erststimme ein:e Kandidat:in im Wahlkreis gewählt und mit der Zweitstimme die Landesliste einer Partei. Das Verfahren der Sitzverteilung wurde jedoch neu geregelt, und zwar in Grundzügen wie folgt: Aus dem bundesweiten Zweitstimmenergebnis wird zunächst proportional berechnet, wie viele Sitze einer Partei bundesweit zustehen ("Oberverteilung"). Sodann werden diese Sitze auf die Landeslisten der jeweiligen Partei im Verhältnis ihrer Zweitstimmenanteile verteilt ("Unterverteilung"). Es werden nur Parteien berücksichtigt, die bundesweit mindestens fünf Prozent der abgegebenen Zweitstimmen erhalten haben (sog. Sperrklausel). Die Vergabe der Sitze erfolgt schließlich anhand der Erststimmenergebnisse: In jedem Land werden die erfolgreichen Wahlkreisbewerber:innen einer Partei – das sind jene Kandidat:innen, die in ihrem Wahlkreis die relative Mehrheit der Erststimmen erhalten haben – nach Stimmenanteilen gereiht. Nach dieser Reihung erfolgt die Sitzzuteilung. Hat eine Partei in einem Land mehr erfolgreiche Wahlkreisbewerber:innen als Sitze, die ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen, so erhalten die Wahlkreisbewerber:innen mit den geringsten Erststimmenanteilen keinen Sitz ("Verfahren der Zweitstimmendeckung": Der Erfolg im Wahlkreis führt nur dann zu einem Sitz im Bundestag, wenn er durch das Zweitstimmenergebnis gedeckt ist.). Übersteigt hingegen die Anzahl der zustehenden Sitze jene der erfolgreichen Wahlkreisbewerber:innen, so werden die übrigen Sitze nach der Landesliste vergeben.

Mehrere Antragsteller:innen (darunter u.a. die Bayerische Staatsregierung sowie die Parteien CSU, CDU und DIE LINKE) haben Teile dieser Wahlrechtsreform beim BVerfG angefochten. Gegenstand der – verbundenen – Verfahren war insbesondere die Prüfung, ob die Sitzverteilung im Verfahren der Zweitstimmendeckung und die Sperrklausel als Zugangshürde zu diesem Verfahren mit dem Grundgesetz vereinbar seien.

Nach der bislang geltenden Rechtslage konnte eine Partei auch dann in den Bundestag einziehen, wenn sie bundesweit weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen, aber in mindestens drei Wahlkreisen einen Sitz errungen hatte (sog. Grundmandatsklausel). Diese Regelung – die etwa der Partei DIE LINKE bei der letzten Bundestagswahl zugutegekommen war – wurde abgeschafft, ebenso das System der Überhang- und Ausgleichsmandate.

Entscheidung des Deutschen Bundesverfassungsgerichts

Das BVerfG kam zum Ergebnis, dass das Zweitstimmendeckungsverfahren mit den Bestimmungen des Grundgesetzes vereinbar sei. Die Fünf-Prozent-Sperrklausel sei in ihrer konkreten Ausgestaltung aber verfassungswidrig.

Zweitstimmendeckungsverfahren

Das Zweitstimmendeckungsverfahren stelle wie bisher eine Kombination von Verhältniswahl und Wahlkreiswahl dar, der Ausgleich zwischen den Ergebnissen dieser beiden Wahlen sei aber neu gestaltet worden. Dies liege im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Das Verfahren verstoße nicht gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl, da jede Wahlstimme den gleichen Zählwert und die gleichen Erfolgschancen habe. Jede Erststimme führe zu einem Mandat für den:die Wahlkreisbewerber:in, wenn diese:r die meisten Erststimmen im Wahlkreis und die Landesliste ausreichend Zweitstimmen erhalte. Beide Bedingungen seien ausschließlich vom Wahlergebnis abhängig. Das Gebot der Unmittelbarkeit der Wahl werde ebenso wenig verletzt wie die Chancengleichheit der Parteien. Das Zweitstimmendeckungsverfahren diene der Zusammensetzung des Bundestages nach Parteienproporz, wie auch das bislang geltende System der Ausgleichsmandate.

Sperrklausel

Die Sperrklausel verstoße in ihrer geltenden Form aber gegen den Grundsatz der Wahlgleichheit. Zwar könne eine Beeinträchtigung dieses Grundsatzes mit dem Ziel gerechtfertigt sein, die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Bundestags zu sichern. Dafür sei eine Sperrklausel in Höhe von fünf Prozent grundsätzlich ein geeignetes Mittel. Unter den gegenwärtigen tatsächlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen sei die konkrete Ausgestaltung der Sperrklausel jedoch nicht in vollem Umfang erforderlich:

Zur Sicherstellung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Bundestages sei es nicht notwendig, eine Partei bei der Sitzverteilung unberücksichtigt zu lassen, deren Abgeordnete eine gemeinsame Fraktion mit den Abgeordneten einer anderen Partei bilden würden, wenn beide Parteien gemeinsam das Fünf-Prozent-Quorum erreichen würden.

Konkret bestehe die Möglichkeit, dass die CSU bei der nächsten Bundestagswahl die bundesweite Sperrklausel nicht überschreiten werde. Im Fall ihrer Berücksichtigung bei der Sitzverteilung würden ihre Abgeordneten jedoch hinreichend sicher eine gemeinsame Fraktion mit den Abgeordneten der CDU bilden. Grundlage hierfür sei eine auf Dauer angelegte Kooperation der beiden Parteien, die sich durch drei Elemente auszeichne: (1.) die Absicht, aufgrund gleichgerichteter politischer Ziele eine Fraktion zu bilden, (2.) den Umstand, dass schon bisher (seit 1949) eine solche gemeinsame Fraktion im Bundestag bestand, und (3.) den Verzicht auf Wettbewerb untereinander, indem Landeslisten nur in unterschiedlichen Ländern eingereicht werden.

Das Ziel der Sperrklausel werde in gleicher Weise erreicht, wenn die Zweitstimmenergebnisse von Parteien, die in dieser Form kooperieren, gemeinsam berücksichtigt werden. Diese Kooperation gehe über ein reines Wahlbündnis hinaus, sie betreffe unmittelbar die Tätigkeit im Bundestag selbst und umfasse sämtliche Parlamentsfunktionen. Werden diese beiden Parteien bei der Anwendung der Sperrklausel gemeinsam berücksichtigt, stelle dies zwar eine Ungleichbehandlung gegenüber anderen Parteien dar. Diese Ungleichbehandlung sei aber jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn sie auf Parteien beschränkt ist, die alle drei genannten Voraussetzungen erfüllen.

Im Ergebnis verletze die Bestimmung der Fünf-Prozent-Sperrklausel den Grundsatz der Wahlgleichheit sowie die CSU in ihrem Recht auf Chancengleichheit.

Angesichts der bevorstehenden Wahl des nächsten Bundestages könne eine verfassungskonforme Neuregelung aber möglicherweise nicht rechtzeitig erfolgen. Das BVerfG ordnete daher an, dass bis zu einer gesetzlichen Neuregelung die Sperrklausel mit der Maßgabe fortgelte, dass eine Partei, die bundesweit weniger als fünf Prozent der gültigen Zweitstimmen erhalten hat, nur dann nicht berücksichtigt wird, wenn ihre Bewerber:innen in weniger als drei Wahlkreisen die meisten Erststimmen erlangt haben. Damit gilt die Grundmandatsklausel also fort, bis der Gesetzgeber eine Neuregelung getroffen hat.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung.