Fachinfos - Judikaturauswertungen 15.10.2024

Deutschland: Klagen einer Fraktion wegen Ausschussvorsitzen erfolglos

Dt. BVerfG 18.9.2024, 2 BvE 1/20, 2 BvE 10/21

Die AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag wandte sich mit Organklagen gegen die Abwahl eines ihr angehörenden Ausschussvorsitzenden sowie gegen die Durchführung von Wahlen zur Bestimmung von Ausschussvorsitzenden, bei denen die von ihr vorgeschlagenen Kandidaten jeweils keine Mehrheit fanden. Das Deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschied, dass keine Verletzung des Rechts auf Gleichbehandlung als Fraktion in Verbindung mit dem Grundsatz der fairen und loyalen Auslegung und Anwendung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GO‑BT) vorliege. Die gerügten Vorgänge lägen im Rahmen der dem Bundestag zustehenden Geschäftsordnungsautonomie. Prüfungsmaßstab für das BVerfG sei in diesem Fall lediglich das Willkürverbot. Die einschlägigen Bestimmungen der GO-BT oder ihre Auslegung und Anwendung seien jedenfalls nicht evident sachwidrig bzw. nicht willkürlich.

Sachverhalt

Die AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag erhob zwei Organklagen wegen der Abwahl bzw. Wahl von Ausschussvorsitzenden. Sie machte jeweils geltend, in ihren Rechten auf Gleichbehandlung als Fraktion, auf faire und loyale Anwendung der GO-BT und auf effektive Opposition verletzt worden zu sein.

Abwahl eines Ausschussvorsitzenden

Die erste Klage betraf die Abwahl des Vorsitzenden des Rechtsausschusses in der 19. Wahlperiode. Der Vorsitzende war aufgrund eines Vorschlags der AfD gewählt worden. In den darauffolgenden zwei Jahren beanstandeten Mitglieder des Rechtsausschusses das Auftreten des Vorsitzenden bei bestimmten Veranstaltungen. Er habe nicht das erforderliche Maß an parteipolitischer Zurückhaltung walten lassen und dadurch seine Aufgabe, den Ausschuss als Ganzen zu repräsentieren, verfehlt. Zudem rief der Vorsitzende durch bestimmte Aktivitäten auf Twitter öffentliche Empörung hervor.

Vor diesem Hintergrund traf der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages eine Auslegungsentscheidung zur GO‑BT, wonach das Amt einer bzw. eines Ausschussvorsitzenden unter anderem im Fall einer Abberufung durch den Ausschuss ende. Die GO-BT regle die Beendigung des Amtes nicht ausdrücklich, nach dem anerkannten Grundsatz des "Actus contrarius" sei sie jedoch möglich, auch im Wege einer Abberufung.

In der Folge beschloss der Rechtsausschuss mit breiter Mehrheit die Abberufung des Vorsitzenden. Begründend wurde unter anderem ausgeführt, die:der Vorsitzende müsse innerhalb und außerhalb der Tätigkeit als Ausschussvorsitzende:r zumindest insoweit Mäßigung üben, als dies die unabdingbare Voraussetzung dafür sei, den Ausschuss unparteiisch leiten und nach außen vertreten zu können.

Wahl von Ausschussvorsitzenden

Die zweite Klage betraf die Wahl von Ausschussvorsitzenden zu Beginn der 20. Wahlperiode. Der AfD-Fraktion wurde das Vorschlagsrecht für die Vorsitze in drei Ausschüssen zugesprochen. In diesen Ausschüssen wurden geheime Wahlen zur Bestimmung der Ausschussvorsitzenden durchgeführt. Dabei erhielt jeweils der von der AfD-Fraktion vorgeschlagene Kandidat keine Mehrheit, dies wiederholte sich bei erneuten geheimen Wahlen. Daraufhin wurden jeweils stellvertretende Vorsitzende gewählt, die Ausschussvorsitze blieben vakant.

Entscheidung des Deutschen Bundesverfassungsgerichts

Das BVerfG erachtete die Organklagen für zulässig, soweit sie sich gegen die betreffenden Ausschüsse als Antragsgegner richteten.

Die Anträge seien aber insoweit unzulässig, als sie ein – im Rechtsstaatsprinzip wurzelndes – Recht auf effektive Opposition geltend machten. Ein subjektives Recht, zu opponieren, folge aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG) ("Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.") als Recht der Abgeordneten. Ein:e Ausschussvorsitzende:r habe aber im Wesentlichen die Funktion, die Arbeit des Ausschusses zu leiten; ihre bzw. seine Aufgaben seien organisatorischer Natur. Mit dem Amt seien keine besonderen Informationsrechte oder Kontrollbefugnisse verbunden. Eine Oppositionsfraktion, die einen Ausschussvorsitz besetzt, könne damit keine Erweiterung ihres Handlungsspielraums gerade als Oppositionsfraktion bewirken. Die Möglichkeit einer Rechtsverletzung sei diesbezüglich nicht hinreichend substantiiert dargelegt worden.

Im Übrigen erkannte das BVerfG die Anträge in der Sache für unbegründet.

Prüfungsmaßstab im Organstreitverfahren sei allein das GG, nicht auch die in der GO‑BT getroffenen Regelungen.

Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG (siehe oben) gewährleiste den Abgeordneten und – von diesen abgeleitet – den Fraktionen das Recht auf gleichberechtigte Mitwirkung am gesamten Prozess der parlamentarischen Willensbildung. Grundsätzlich müsse jeder Ausschuss, soweit er Aufgaben des Plenums übernimmt bzw. dessen Entscheidungen vorbereitet, in seiner Zusammensetzung jene des Plenums widerspiegeln, um dem Repräsentationsprinzip Rechnung zu tragen. Dieser Grundsatz der Spiegelbildlichkeit gelte aber nicht für Gremien und Funktionen, die lediglich organisatorischer Art sind. Er gewähre keinen Anspruch auf Zugang zu Leitungsämtern, bei denen es nicht zur inhaltlichen Vorformung der parlamentarischen politischen Willensbildung kommt.

Die erwähnte Bestimmung begründe aber einen Status formaler Gleichheit der Abgeordneten und ihrer Zusammenschlüsse. Daraus resultiere unter anderem ein Recht auf eine faire und loyale Auslegung und Anwendung der GO-BT.

Gemäß Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG ("Er gibt sich eine Geschäftsordnung.") komme es dem Deutschen Bundestag zu, kraft seiner Geschäftsordnungsautonomie über seine innere Organisation und sein Verfahren zu entscheiden. Dabei habe er einen weiten Spielraum. Gestaltung, Auslegung und Anwendung der GO-BT unterlägen nur einer eingeschränkten verfassungsgerichtlichen Kontrolle – nämlich dahingehend, ob die einschlägigen Bestimmungen oder ihre Auslegung und Anwendung jedenfalls nicht evident sachwidrig und damit willkürlich sind.

Anhand dieser Maßstäbe scheide eine Verletzung des Rechts auf Gleichbehandlung als Fraktion in Verbindung mit dem Grundsatz der fairen und loyalen Auslegung der GO‑BT aus:

Zur Wahl von Ausschussvorsitzenden

§ 12 Satz 1 GO-BT bestimme, dass die Positionen der Ausschussvorsitzenden nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen zuzuweisen sind. Zugleich lege § 58 GO-BT fest, dass die Ausschüsse ihre Vorsitzenden "bestimmen". Die Auslegung und Anwendung dieser Regelungen dahingehend, dass Ausschussvorsitzende im Wege einer Mehrheitswahl durch die jeweiligen Ausschüsse bestimmt werden, wahrten den Grundsatz einer fairen und loyalen Auslegung der GO-BT und seien nicht evident sachwidrig.

§ 58 GO-BT überantworte den Ausschüssen die Entscheidungsbefugnis über den Vorsitz. Wäre der Ausschuss dabei strikt an den Vorschlag der vorschlagsberechtigten Fraktion gebunden, so bedürfte es dieser Formulierung nicht. Die Regelung des § 12 GO-BT werde dadurch nicht in Frage gestellt. Sie weise das Vorschlagsrecht den Fraktionen zu und schließe damit ein eigenes Vorschlagsrecht innerhalb des Ausschusses aus. Gelinge die Wahl nicht, bleibe der Vorsitz vakant. Die vorschlagsberechtigte Fraktion könne weiterhin von ihrem fortbestehenden Vorschlagsrecht Gebrauch machen. Bis zu einer erfolgreichen Wahl werde die Ausschussleitung von den stellvertretenden Vorsitzenden wahrgenommen.

Eine Wahl der Ausschussvorsitzenden sichere die Arbeits- und Funktionsfähigkeit der Ausschüsse. Sie verhindere, dass dem Ausschuss ein Vorsitz aufgedrängt werde, der nicht das Vertrauen der Ausschussmehrheit besitzt.

Eine nach Maßgabe der GO-BT zulässige Wahl zur Besetzung eines parlamentarischen Leitungsamtes könne nur eine freie Wahl sein. Mit einer freien Wahl wäre es unvereinbar, wenn eine Fraktion das Recht auf ein bestimmtes Wahlergebnis hätte. Der Wahlakt unterliege grundsätzlich keiner über Verfahrensfehler hinausgehenden gerichtlichen Kontrolle. In den konkreten Fällen gebe es keine Anhaltspunkte für eine dem Grundsatz der fairen und loyalen Anwendung der Geschäftsordnung widersprechende Anwendung der GO-BT.

Zur Abwahl eines Ausschussvorsitzenden

Die dem Abwahlvorgang zugrundeliegende Auffassung, die GO-BT gestatte die Abwahl einer bzw. eines Ausschussvorsitzenden, entspreche einer fairen und loyalen Auslegung der GO‑BT und sei nicht evident sachwidrig. Im parlamentsrechtlichen Schrifttum werde in Hinblick auf die Befugnis zur Abwahl ebenfalls auf den "Actus-contrarius"-Gedanken hingewiesen. Das Fehlen einer ausdrücklichen geschäftsordnungsrechtlichen Regelung stehe einer Abwahlmöglichkeit demnach nicht entgegen, sie sei vielmehr als implizite Befugnis der Geschäftsordnung zu entnehmen.

Auch Sinn und Zweck des § 58 GO-BT unterstützten diese Auffassung. Ziel der Regelungen der GO-BT sei die Sicherung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Deutschen Bundestages. Vorsitzende, die nicht mehr über das Vertrauen der Ausschussmehrheit verfügen, könnten ihr Amt nicht effektiv ausüben.

Das Verfahren im Rechtsausschuss vor der Entscheidung über den Abwahlantrag sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden; das Recht auf ein faires Verfahren – das auch bei einer fairen und loyalen Auslegung der GO-BT gelte – sei gewahrt worden. Im Übrigen sei die Abwahl nicht willkürlich erfolgt. Es sei nicht ersichtlich, dass ihr Erwägungen zugrunde gelegen hätten, die keinen sachlichen Zusammenhang zum Amt des Vorsitzes bzw. zur Befähigung des Vorsitzenden, sein Amt in angemessener Weise auszuüben, erkennen lassen.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung.