Fachinfos - Judikaturauswertungen 08.11.2024

Deutschland: Streit über konstituierende Sitzung im Landtag

Thüringer VerfGH 27.9.2024, 36/24

In der konstituierenden Sitzung des Thüringer Landtags entstand ein Streit über die Vorsitzführung durch den Alterspräsidenten. Im Kern ging es um die Frage, ob ein Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung schon vor der Wahl der Landtagspräsidentin bzw. des Landtagspräsidenten behandelt werden kann. Mit dem eingebrachten Antrag zur Änderung der Geschäftsordnung sollte das Vorschlagsrecht zur Wahl der Präsidentin bzw. des Präsidenten geändert werden. Der Thüringer Verfassungsgerichtshof entschied, dass die Festlegung der Reihenfolge der Tagesordnung dem Plenum obliege und nicht dem Alterspräsidenten. Der Alterspräsident sei nicht berechtigt, die Abstimmung zu verweigern. Es sei zulässig, die Geschäftsordnung schon vor dem Wahlvorgang zu ändern, auch der Inhalt der beabsichtigten Änderung sei verfassungsrechtlich unbedenklich.

Sachverhalt

Der Thüringer Landtag wurde am 1. September 2024 neu gewählt. Am 19. September 2024 brachten die Fraktionen der CDU und des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) einen Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung ein, der das Vorschlagsrecht für die Wahl zur Landtagspräsidentin bzw. zum Landtagspräsidenten betraf. Am selben Tag versendete die bisherige Landtagspräsidentin eine Einladung zur konstituierenden Sitzung. Die vorläufige Tagesordnung umfasste unter anderem folgende Punkte: 1) Eröffnung durch die Alterspräsidentin bzw. den Alterspräsidenten, 2) Ernennung von vorläufigen Schriftführer:innen, 3) Aufruf der Namen der Abgeordneten und Feststellung der Beschlussfähigkeit, 4) Antrag der Fraktionen der CDU und des BSW zur Änderung der Geschäftsordnung, 5) Wahl der Präsidentin bzw. des Präsidenten, Wahlvorschlag der AfD-Fraktion.

Der neu gewählte Thüringer Landtag trat am 26. September 2024 zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Die Sitzung wurde durch den Alterspräsidenten eröffnet, der der AfD-Fraktion angehört. Trotz mehrfacher Anträge lehnte er es ab, die Beschlussfähigkeit des Thüringer Landtages festzustellen und über die Tagesordnung abstimmen zu lassen. Vielmehr vertrat er die Auffassung, dass der Landtag erst nach der Wahl der Präsidentin bzw. des Präsidenten in der Lage sei, Beschlüsse zu fassen. Er unterbrach die Sitzung mit der Ankündigung, diese am 28. September 2024 fortzusetzen.

Die CDU-Fraktion im Thüringer Landtag brachte am 26. September 2024 beim Thüringer Verfassungsgerichtshof einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ein, dem die SPD-Fraktion, die Fraktion DIE LINKE und die BSW-Fraktion im Thüringer Landtag beitraten. Es wurde beantragt, den Alterspräsidenten zu verpflichten, 1) gemäß der versendeten Tagesordnung zu verfahren, die Beschlussfähigkeit festzustellen und den Namensaufruf der Abgeordneten durchzuführen, 2) die Tagesordnung festzustellen, 3) den Antrag der Fraktionen der CDU und des BSW auf Änderung der Geschäftsordnung aufzurufen und zur Abstimmung zu stellen, 4) die Wahl der Landtagspräsidentin bzw. des Landtagspräsidenten zu eröffnen.

Entscheidung des Thüringer Verfassungs­gerichtshofs

Der Thüringer Verfassungsgerichtshof entschied, dass der Alterspräsident verpflichtet sei, den Namensaufruf der Abgeordneten durchzuführen, daran anknüpfend die Feststellung über die Beschlussfähigkeit des Landtags zu treffen und sodann die vorläufige Tagesordnung in der Fassung vom 19. September 2024 im Plenum zur Abstimmung zu stellen. Er sei nicht berechtigt, diese Verfahrenshandlungen zu verweigern.

Sein Amt sei allein durch die Notwendigkeit geprägt, das Verfahren bis zur Wahl der Landtagspräsidentin bzw. des Landtagspräsidenten durchzuführen und das Amt an diese bzw. diesen zu übergeben. Darüber hinausgehende Befugnisse habe der Alterspräsident nicht. Er sei weder zu einer Entscheidung über die Auslegung der Geschäftsordnung befugt noch dürfe er Anträge des Plenums ablehnen.

Notwendiger Bestandteil der Konstituierung eines neu gewählten Parlaments sei auch, dass es eine Entscheidung über seine Geschäftsordnung trifft. Eine Debatte und Beschlussfassung über eine Änderung der Geschäftsordnung sei bereits in der Konstituierungsphase des Landtags und auch vor der Wahl der Präsidentin bzw. des Präsidenten zulässig. Dies folge auch aus dem Recht zur Selbstorganisation der Legislative.

Der Inhalt des Antrags der Fraktionen der CDU und des BSW zur Änderung der Geschäftsordnung des Thüringer Landtags sei mit der Verfassung vereinbar. Eine Nichtbehandlung des Antrags durch den Alterspräsidenten komme unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt in Betracht. 

Gegenstand des Antrags sei insbesondere die Änderung von § 2 der Geschäftsordnung: Nach der bisherigen Regelung schlage die stärkste Fraktion ein Mitglied des Landtags für die Wahl zur Präsidentin bzw. zum Präsidenten vor. Der Änderungsantrag sehe hingegen vor, dass der Landtag die Präsidentin bzw. den Präsidenten aus seiner Mitte für die Dauer der Wahlperiode wählt.

Diese Änderung verstoße weder gegen Bestimmungen der Thüringer Verfassung noch gegen verfassungsrechtliches Gewohnheitsrecht. Ein ausschließlicher Anspruch der stärksten Fraktion im Thüringer Landtag zur Unterbreitung von Vorschlägen für die Wahl der Präsidentin bzw. des Präsidenten (exklusives Vorschlagsrecht) oder gar einen Anspruch dieser Fraktion auf die Wahl einer von ihr vorgeschlagenen Person für dieses Amt (Benennungsrecht oder Besetzungsrecht) ergebe sich weder aus geschriebenem noch aus ungeschriebenem Verfassungsrecht.

Dem Begriff der Wahl wohne inne, eine Entscheidung treffen zu dürfen, das heißt sich auch gegen eine Kandidatin bzw. einen Kandidaten entscheiden zu können. Der Grundsatz der Freiheit der Wahl würde untergraben, wenn keine Auswahlmöglichkeiten und ein faktischer Zwang zur Zustimmung bestünde.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung.