Fachinfos - Judikaturauswertungen

Deutschland: Vorläufige Anwendung des CETA-Abkommens

Keine Verletzung der Integrationsverantwortung des Deutschen Bundestages betreffend die vorläufige Anwendung des Abkommens CETA. Dt. BVerfG 2.3.2021, 2 BvE 4/16 (12. April 2021)

Sachverhalt

Im Jahr 2016 hatte die Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag unter anderem beantragt, der Bundestag wolle die Bundesregierung auffordern, den Beschluss über die vorläufige Anwendung des Abkommens CETA im Rat der Europäischen Union (EU) abzulehnen und eine Stellungnahme beschließen, nach der die Unterzeichnung und vorläufige Anwendung des Abkommens unions- und verfassungswidrig seien. Die von der EU vorgeschlagenen Ratsbeschlüsse seien Ultra-vires-Akte der EU und verletzten die Verfassungsidentität. Der Deutsche Bundestag lehnte die Anträge ab und beschloss eine Stellungnahme, in der das Parlament die Bundesregierung aufforderte, über im Zusammenhang mit CETA stehende Angelegenheiten weiterhin umfassend und frühzeitig zu informieren, CETA als gemischtes Abkommen zu unterzeichnen und Ausnahmen von seiner vorläufigen Anwendung zur Wahrung mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten zu vereinbaren.

Die Fraktion DIE LINKE begehrte im Wege eines Organstreitverfahrens beim Deutschen Bundesverfassungsgericht (Dt. BVerfG) daraufhin die Feststellung, dass die Unterlassung einer Zustimmung zur vorläufigen Anwendung des Abkommens durch ein Parlamentsgesetz das Grundgesetz (GG) und die Rechte des Bundestages verletze. Der Bundestag werde seiner Integrationsverantwortung nicht gerecht.


Entscheidung des Deutschen Bundesverfassungsgerichts

Das Dt. BVerfG stellte die Unzulässigkeit des Antrages im Organstreitverfahren fest. Die antragstellende Fraktion habe die Möglichkeit der behaupteten Rechtsverletzung nicht substantiiert dargelegt.

Aus dem GG (Art. 23) ergebe sich kein Gebot zum Erlass eines Gesetzes, das eine Inanspruchnahme von Hoheitsrechten durch die EU oder andere zwischenstaatliche Einrichtungen legitimieren könnte. Ein Ultra-vires-Akt der EU sei auch dann mit dem GG unvereinbar, wenn der/die deutsche Vertreter/in im Rat durch ein gesondertes Gesetz des Bundestages ermächtigt würde, zuzustimmen. Eine Heilung eines Verfassungsverstoßes durch Gesetz sei im Fall eines Ultra-vires-Aktes nicht möglich. Der Gesetzgeber dürfe die Bundesregierung gar nicht ermächtigen, einem solchen Akt zuzustimmen.

Aber auch im Übrigen sei die Möglichkeit der Verletzung der Integrationsverantwortung nicht hinreichend substantiiert dargelegt worden. Den Bundestag treffe zwar eine spezifische Integrationsverantwortung, wonach er dafür Sorge tragen müsse, dass das vom GG gebilligte Integrationsprogramm eingehalten und die Integrität der Verfassungsidentität gewahrt werde. Welche Verpflichtungen damit konkret verbunden seien, hänge aber von den Gegebenheiten des Einzelfalles ab. Dem Bundestag komme in diesem Zusammenhang ein weiter Spielraum zu. Eine Verletzung der Integrationsverantwortung liege erst dann vor, wenn getroffene Maßnahmen völlig ungeeignet bzw. völlig unzureichend seien oder erheblich hinter dem Schutzziel zurückblieben.

Bundestag und Bundesrat seien zwar zur Mitwirkung in Angelegenheiten der EU berechtigt und verpflichtet; es komme dabei aber ein breites Spektrum an möglichen Maßnahmen in Betracht: Es könnten die Änderung des Primärrechts veranlasst und damit ultra vires in Anspruch genommene Hoheitsrechte förmlich übertragen werden. Es könne und müsse unter Umständen mit rechtlichen oder politischen Mitteln auf die Aufhebung der vom Integrationsprogramm nicht gedeckten Maßnahmen hingewirkt werden. Solange die Ultra-vires-Akte fortwirkten, seien geeignete Vorkehrungen dafür zu treffen, dass die innerstaatlichen Auswirkungen der Maßnahmen so weit wie möglich begrenzt blieben.

Dem Bundestag stünden dabei unterschiedliche Mittel zur Verfügung, wie etwa eine Klage vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, die Beanstandung der fraglichen Maßnahme gegenüber den handelnden und den diese kontrollierenden Stellen, Abstimmungen in den Entscheidungsgremien der EU, Vorstöße zu Vertragsänderungen oder Weisungen an nachgeordnete Stellen. Er könne sich zudem seines Frage-, Debatten- und Entschließungsrechts bedienen, der Bundesregierung seine Auffassung durch Beschluss mitteilen, Gesetze erlassen oder von den Möglichkeiten der Subsidiaritätsklage, des Enqueterechts oder des Misstrauensvotums Gebrauch machen. Bei einem vom Dt. BVerfG festgestellten Ultra-vires-Handeln oder einer Berührung der Verfassungsidentität bedürfe es aber jedenfalls einer Plenardebatte, da der Bundestag seine Repräsentationsfunktion grundsätzlich in seiner Gesamtheit wahrnehme. Einem Ultra-vires-Akt müsse der Bundestag jedenfalls entgegentreten. Entscheidungen von erheblicher Tragweite habe zudem ein Verfahren unter Einbindung der Öffentlichkeit vorauszugehen und bei Verletzung der Kompetenzordnung müsse diese aktiv wiederhergestellt werden.

Im vorliegenden Fall seien der vom Bundestag beschlossenen Stellungnahme aber zahlreiche Plenarsitzungen und eine Vielzahl von Ausschusssitzungen vorangegangen, Sachverständige angehört worden und es habe ein Austausch mit den zuständigen Akteuren Kanadas und der EU stattgefunden. Die Stellungnahme enthalte erkennbar inhaltliche Vorgaben für die Mitwirkung der Bundesregierung im Rat der EU und betone die Notwendigkeit von Ausnahmen von der vorläufigen Anwendbarkeit, wo dies geboten sei. Der Bundestag sei damit umfangreich tätig geworden und habe sich hinreichend mit der Thematik auseinandergesetzt. Vor diesem Hintergrund habe die antragstellende Fraktion nicht genügend dargetan, warum der Bundestag seine Integrationsverantwortung verletzt haben sollte.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung.