Fachinfos - Judikaturauswertungen 27.01.2021

Deutschland: Wahlen in Zeiten von Covid-19

Baden-Württemberg: Wegen Covid-19-Pandemie ist Zahl der Unterstützungserklärungen für Kandidatur von Kleinparteien herabzusetzen. VerfGH Baden-Württemberg 9.11.2020, 1 GR 101/20 (27. Jänner 2021)

Sachverhalt

Das Gesetz über die Landtagswahlen (LWG) in Baden-Württemberg sieht 70 Wahlkreise vor. Wahlwerbende Parteien, die nicht im Landtag vertreten sind, müssen für jeden Wahlkreis mindestens 150 handschriftlich geleistete Unterstützungserklärungen vorlegen. Die nächste Landtagswahl ist für den 14. März 2021 angesetzt; Wahlvorschläge mussten bis 14. Jänner 2021 eingebracht werden.

Am 16. September 2020 beantragten die Landesverbände von fünf politischen Parteien, die derzeit nicht im Landtag von Baden-Württemberg vertreten sind, im Rahmen eines Organstreitverfahrens vor dem Verfassungsgerichtshof Baden-Württembergs (VerfGH) die Feststellung, dass ihre Rechte auf gleiche Wahlen sowie auf Chancengleicheit der politischen Parteien dadurch verletzt werden, dass § 24 Abs. 2 Satz 2 LWG nicht an die durch die COVID-19-Pandemie geänderten Umstände angepasst wurde: Die zum Schutz gegen die Verbreitung des Virus verfügten Maßnahmen erschwerten die nach dieser Bestimmung notwendige Unterschriftensammlung maßgeblich. Die vom Gesetzgeber unterlassene Anpassung an die aktuellen Verhältnisse führe zu einer Verzerrung des politischen Wettbewerbs.

Entscheidung des Verfassungs­gerichtshofs Baden-Württemberg

Der VerfGH stellte fest, dass der Landtag die antragstellenden Parteien in ihrem Recht auf Chancengleichheit der Parteien gemäß der Landesverfassung und dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verletzte, weil er es unterlassen hat, das Unterschriftenerfordernis des § 24 Abs. 2 Satz 2 LWG an die anhaltende COVID-19-Pandemie anzupassen.

Die Unterlassung des Gesetzgebers sei tauglicher Gegenstand eines Organstreits. Der Landtag als Antragsgegner müsse sich die Untätigkeit der Abgeordneten oder Fraktionen zurechnen lassen. Die für Anträge vorgesehene 6-Monatsfrist gelte auch für Unterlassungen und habe im konkreten Fall zu laufen begonnen, als sich abzeichnete, dass die Ausbreitung des Virus kein kurzfristiges Phänomen sei und zumindest das öffentliche Leben mittelfristig – wohl bis zum Zeitpunkt, zu dem ein wirksamer Impfstoff vorhanden sein würde – nicht unerheblich einschränken würde.

Das Erfordernis der Unterschriftensammlung für nicht im Landtag vertretene Parteien sei grundsätzlich eine gerechtfertigte Maßnahme, um den Charakter der Wahl als einen Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes sowie die Funktionstüchtigkeit der zu wählenden Volksvertretung sicherzustellen. Auch müssten so die Wahlwerber/innen die Ernsthaftigkeit ihrer Kandidatur unter Beweis stellen. Im Vergleich mit anderen Bundesländern, in denen auch eine Wahl anstünde, sei die erforderliche Unterschriftenzahl in Baden-Württemberg jedoch sehr hoch. Eine Partei, die in allen Wahlkreisen antreten wollte, müsste 10.500 Unterschriften sammeln, das seien 0,137 Prozent aller Wahlberechtigten. Im Vergleich dazu seien in Rheinland-Pfalz die Unterschriften von 0,07 Prozent und in Thüringen von 0,06 Prozent der Wahlberechtigten erforderlich.

Die Beibehaltung dieses Unterschriftenquorums während der Pandemie verstärke die Ungleichbehandlung der Parteien (zwischen jenen, die Unterschriften sammeln müssten, und jenen, die keine sammeln müssten) deutlich. Die verordnete Reduzierung sozialer Kontakte, insbesondere von engen Begegnungen zwischen unbekannten Personen im öffentlichen Raum, die Einschränkung von Veranstaltungen, die Abstandsregeln und die Mund-Nasen-Bedeckung treffe die politische Kommunikation. Auch wenn die Unterlagen per Post mit der Bitte um Rücksendung zugesandt oder als Download zur Verfügung gestellt werden könnten, wäre der Kontaktverlust nicht zu kompensieren.

Daher müsse der Landtag eine neue Lösung finden, wobei sich mehrere Möglichkeiten anbieten würden. Für eine – auch kurzfristig mögliche – Senkung des Unterschriftenquorums lasse sich keine exakte Zahl festmachen. Der VerfGH hielt allerdings fest, dass er eine Reduzierung der notwendigen Unterstützungserklärungen um jedenfalls 50% – nach derzeitigem Erkenntnisstand und unter Berücksichtigung allenfalls weiterer Verschärfungen der Schutzmaßnahmen – nicht erneut verfassungsrechtlich beanstanden wird.

Vgl. zu diesem Verfahren den Volltext der Entscheidung.

Hinweis: Der Landtag Baden-Württembergs beschloss am 12. November 2020 die Einfügung von § 24 Abs. 2a LWG, womit für die Wahl am 14. März 2021 die Mindestzahl der notwendigen Unterschriften pro Wahlkreis mit 75 (anstatt 150) festgelegt wurde.