Fachinfos - Judikaturauswertungen 29.11.2023

EGMR: Entzug des Wahlrechts infolge von Straffälligkeit

EGMR 24.10.2023, 68958/17, Myslihaka u.a. gg. Albanien

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat entschieden, dass ein gesetzlicher Ausschluss vom Wahlrecht für Strafgefangene mit dem Recht auf freie Wahlen gemäß Art. 3 des 1. ZP zur EMRK vereinbar sein kann. Auch ein Gesetz, dass eine Entziehung des Wahlrechts ohne Einbeziehung einer Richterin bzw. eines Richters vorsieht, kann verhältnismäßig sein, sofern die Umstände, unter denen das Wahlrecht verwirkt wird, im Gesetz im Einzelnen festgelegt werden, und die Anwendung von Faktoren wie der Art oder der Schwere der begangenen Straftat abhängig gemacht wird.

Sachverhalt

Die Beschwerdeführer sind albanische Staatsangehörige und waren zum Zeitpunkt der albanischen Parlamentswahlen im Jahr 2017 Strafgefangene. Ein 2015 in Albanien verabschiedetes Gesetz schloss verurteilte Personen, die zum Zeitpunkt der Wahl eine rechtskräftig verhängte Freiheitsstrafe wegen einer der in diesem Gesetz genannten Straftaten verbüßten, vom Wahlrecht aus. Die Beschränkung war auch dann gültig, wenn sie in der Verurteilung der betroffenen Person nicht erwähnt worden war. Das Gesetz galt auch für Gefangene, die in der Vergangenheit wegen einer der im Gesetz aufgeführten Straftaten verurteilt worden waren. Vor Verabschiedung des Gesetzes holte das albanische Parlament die Meinung der Venedig-Kommission des Europarates ein. Diese bekräftigte, dass die Einschränkung des Wahlrechts mit der EMRK vereinbar sei, sofern sie mit der albanischen Verfassung übereinstimmt, eindeutig gesetzlich vorgesehen ist, ein legitimes Ziel verfolgt und verhältnismäßig ist. Zum Zeitpunkt der Parlamentswahlen am 25. Juni 2017 waren alle Beschwerdeführer aufgrund dieses Gesetzes vom Wahlrecht ausgeschlossen (vier von ihnen waren verurteilt worden, bevor das Gesetz in Kraft getreten war, zwei danach). Die Beschwerdeführer wandten sich unmittelbar an den EGMR und brachten vor, dass der Entzug des Wahlrechts eine Verletzung ihres Rechts auf freie Wahlen darstelle.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Der EGMR erachtete die Beschwerden auf Grund des Fehlens einer effektiven innerstaatlichen Rechtschutzmöglichkeit auch ohne die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges für zulässig. Inhaltlich hielt das Gericht zunächst fest, dass die aus seiner Judikatur zum Recht auf freie Wahlen einschlägigen allgemeinen Grundsätze zu beachten seien, den Mitgliedstaaten jedoch ein Beurteilungsspielraum eingeräumt sei: Um die durch Art. 3 des 1. ZP zur EMRK garantierten Rechte zu gewährleisten, könnten die Mitgliedstaaten beschließen, es entweder den innerstaatlichen Gerichten zu überlassen, die Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme zur Beschränkung des Wahlrechts verurteilter Häftlinge zu bestimmen, oder Bestimmungen in ihre Gesetze aufzunehmen, die die Umstände festlegen, unter denen eine solche Maßnahme angewendet werden sollte. Im letzteren Fall obliege es dem Gesetzgeber selbst, die konkurrierenden Interessen abzuwägen, um eine allgemeine, automatische und unterschiedslose Beschränkung zu vermeiden. Der durch das Gesetz erfolgte Wahlrechtsausschluss stelle ohne Zweifel einen Eingriff in das Recht auf freie Wahlen dar; fraglich sei nur, ob er gerechtfertigt sei, ob er also ein legitimes Ziel verfolgt habe und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen sei.

Der Eingriff verfolge eine legitimes Ziel: Es handele sich um eine Maßnahme zum Schutz des demokratischen Wertesystems, zur Verbrechensverhütung, zur Stärkung der bürgerlichen Verantwortung und der Achtung der Rechtsstaatlichkeit sowie zum Schutz der einschlägigen Institutionen vor unrechtmäßiger Einflussnahme bei der Auswahl von Beamt:innen und der Politikgestaltung. Die Beschränkung des Wahlrechts der Beschwerdeführer für die Parlamentswahlen 2017 könne angesichts der Schwere der von ihnen begangenen Straftaten auch als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, also nicht als unverhältnismäßig angesehen werden. Es bestehe kein Zweifel, dass jede dieser Straftaten ein schwerer Angriff auf die Werte der Gesellschaft und der sozialen Ordnung darstelle. An diese Schwere knüpfe das Gesetz an. Es sei möglich, bei allen Beschwerdeführern einen erkennbaren und ausreichenden Zusammenhang zwischen den von ihnen jeweils begangenen Straftaten und dem Entzug des jeweiligen Wahlrechts festzustellen. Der Umstand, dass die getroffene gesetzliche Regelung nur 932 von insgesamt 5300 Strafgefangenen vom Wahlrecht zu den Parlamentswahlen 2017 ausschloss, zeige, dass sie einen begrenzten Anwendungsbereich habe. Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme sei also auch mit der Einschränkung des Wahlrechtsentzugs auf wenige schwere Straftaten sichergestellt worden. Der dem Staat in diesem Bereich eingeräumte Beurteilungsspielraum sei daher nicht überschritten worden und im Ergebnis liege somit keine Verletzung des Rechts auf freie Wahlen gemäß Art. 3 des 1. ZP zur EMRK vor.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung (jeweils in englischer Sprache).