Fachinfos - Judikaturauswertungen 20.01.2022

EGMR: Rechtsschutz in Polen

Polen: Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des obersten Gerichts ist kein Gericht im Sinne der EMRK (20. Jänner 2022)

EGMR 8.11.2021, 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek and Ozimek gg. Polen

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied, dass die „Kammer für Außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten“ am Obersten Gericht in Polen kein Gericht im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ist, weil sie mehrheitlich auf Empfehlung des polnischen Justizrats besetzt wird, wofür es im relevanten Zeitpunkt im nationalen Recht keine gesetzliche Grundlage (mehr) gab.

Sachverhalt

Frau Dolińska-Ficek, Richterin an einem Bezirksgericht, bewarb sich im Oktober 2017 für eine an einem Regionalen Verwaltungsgericht ausgeschriebene Stelle. Aufgrund ihrer hervorragenden Dienstzeugnisse wurde sie von der überwiegenden Mehrheit der Vollversammlung des Verwaltungsgerichts für „sehr gut“ geeignet befunden. Der Landesjustizrat (Krajowa Rada Sądownictwa – KRS) gab jedoch eine negative Empfehlung zur Bewerbung mit der Begründung ab, die Bewerberin hätte nicht die Kenntnisse, Fähigkeiten und Eignung für diese Stelle vorweisen können. Frau Dolińska-Ficek erhob gegen diesen Beschluss unter Berufung auf den Gleichheitsgrundsatz Beschwerde an das Oberste Gericht. Die zuständige „Kammer für Außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten“ beim Obersten Gericht verwarf jedoch im Feber 2019 diese Beschwerde.

Herr Ozimik, Richter am Regionalgericht, bewarb sich im März 2018 für eine Stelle an einem Berufungsgericht, ebenfalls mit einem positiven Dienstzeugnis. Der Landesjustizrat empfahl jedoch nicht ihn sondern andere KandidatInnen für die drei offenen Stellen. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde von der „Kammer für Außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten“ des Obersten Gerichts im April 2019 abgewiesen.

Die beiden Betroffenen wandten sich an den EGMR und machten geltend, dass die entscheidende Kammer kein unabhängiges und unparteiisches Tribunal gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK sei. Die konkrete Zusammensetzung dieser Kammer gehe auf Empfehlungen des Landesjustizrats zurück, der seinerseits nach der polnischen Justizreform von 2017 mehrheitlich vom polnischen Parlament bestellt werde und dem es daher an der richterlichen Unabhängigkeit mangle. Sie führten das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom November 2019 zur Disziplinarkammer am Obersten Gericht Polens ins Treffen, das sich mit dem Landesjustizrat befasst hatte (EuGH 19.11.2019, C-585-18 u.a.; siehe dazu Judikaturauswertung 4. Quartal 2019, Nr. 02). Wie im Fall der Disziplinarkammer werden auch die Mitglieder der Kammer für Außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten auf Vorschlag des Landesjustizrats vom Präsident der Republik Polen bestellt. In Anwendung der Entscheidung des EuGH hatte das polnische Oberste Gericht im Dezember 2019 entschieden, dass die Disziplinarkammer kein aufgrund Gesetz eingerichtetes, unabhängiges und unparteiisches Gericht sei und den Beschluss des Landesjustizrats, mit dem weitere Mitglieder für diese Kammer empfohlen wurden, ausgesetzt.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Der EGMR verband beide Beschwerden zu einem Verfahren und erklärte sie – entgegen dem Vorbringen der polnischen Regierung – für zulässig. Der gleichberechtigte Zugang zu öffentlichen Ämtern, wie er vom polnischen Recht anerkannt und von Art. 60 der polnischen Verfassung geschützt werde, sei ein zivilrechtlicher Anspruch gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK, über den ein unabhängiges und unparteiisches Gericht zu entscheiden habe. Die Verfahren hätten Auswirkungen auf die berufliche Laufbahn der BeschwerdeführerInnen, ihre Eignung für eine Beförderung, ihren Status und ihre finanzielle Situation.

In der Sache kam der EGMR zu dem Ergebnis, dass die Kammer für Außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten kein auf Gesetz beruhendes Gericht ist und damit eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vorliegt. Der EGMR verpflichtete Polen, den BeschwerdeführerInnen innerhalb von drei Monaten je € 15.000,– Schadenersatz für immaterielle Schäden zu leisten. Polen habe zudem alle legistischen und konkreten Maßnahmen zu ergreifen, um diese Konventionsverletzung zu beenden.

Die Prüfung der Beschwerden nahm der EGMR anhand seiner in der Vorjudikatur (1.12.2020, 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson gg Island; 22.7.2021, 43447/19, Reczkowicz gg. Polen) entwickelten Kriterien vor. Durch die Ernennung der RichterInnen der Kammer auf Empfehlung des Landesjustizrats, dessen Zusammensetzung seinerseits – entgegen der polnischen Verfassung – maßgeblich vom Parlament bestimmt sei, sei offensichtlich gegen innerstaatliches Recht verstoßen worden. Der Landesjustizrat sei seit dem Änderungsgesetz vom Dezember 2017 von der Legislative und der Exekutive nicht mehr ausreichend unabhängig. Erschwerend käme hinzu, dass der Präsident der Republik Polen trotz anhängiger Rechtsmittelverfahren und der Anordnung des Obersten Gerichts vom Dezember 2019, die Umsetzung des Beschlusses des Landesjustizrates auszusetzen, weiterhin die dort für diese Kammer empfohlenen RichterInnen ernannt habe.

Der EGMR betonte, dass seine Entscheidung im Lichte der Gesetzesänderungen im Rahmen der polnischen Justizreform, aller polnischen einschlägigen Gerichtsverfahren und des internationalen Regelwerks (UN, OSCE, Europarat, Konsultativer Rat der Europäischen RichterInnen, GRECO usw.) sowie der Normen, Beschlüsse und Verfahren der EU-Organe zur Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit getroffen wurde.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung (Download, PDF) und den Volltext der Entscheidung (jeweils in englischer Sprache).