Der EGMR verband beide Beschwerden zu einem Verfahren und erklärte sie – entgegen dem Vorbringen der polnischen Regierung – für zulässig. Der gleichberechtigte Zugang zu öffentlichen Ämtern, wie er vom polnischen Recht anerkannt und von Art. 60 der polnischen Verfassung geschützt werde, sei ein zivilrechtlicher Anspruch gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK, über den ein unabhängiges und unparteiisches Gericht zu entscheiden habe. Die Verfahren hätten Auswirkungen auf die berufliche Laufbahn der BeschwerdeführerInnen, ihre Eignung für eine Beförderung, ihren Status und ihre finanzielle Situation.
In der Sache kam der EGMR zu dem Ergebnis, dass die Kammer für Außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten kein auf Gesetz beruhendes Gericht ist und damit eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vorliegt. Der EGMR verpflichtete Polen, den BeschwerdeführerInnen innerhalb von drei Monaten je € 15.000,– Schadenersatz für immaterielle Schäden zu leisten. Polen habe zudem alle legistischen und konkreten Maßnahmen zu ergreifen, um diese Konventionsverletzung zu beenden.
Die Prüfung der Beschwerden nahm der EGMR anhand seiner in der Vorjudikatur (1.12.2020, 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson gg Island; 22.7.2021, 43447/19, Reczkowicz gg. Polen) entwickelten Kriterien vor. Durch die Ernennung der RichterInnen der Kammer auf Empfehlung des Landesjustizrats, dessen Zusammensetzung seinerseits – entgegen der polnischen Verfassung – maßgeblich vom Parlament bestimmt sei, sei offensichtlich gegen innerstaatliches Recht verstoßen worden. Der Landesjustizrat sei seit dem Änderungsgesetz vom Dezember 2017 von der Legislative und der Exekutive nicht mehr ausreichend unabhängig. Erschwerend käme hinzu, dass der Präsident der Republik Polen trotz anhängiger Rechtsmittelverfahren und der Anordnung des Obersten Gerichts vom Dezember 2019, die Umsetzung des Beschlusses des Landesjustizrates auszusetzen, weiterhin die dort für diese Kammer empfohlenen RichterInnen ernannt habe.
Der EGMR betonte, dass seine Entscheidung im Lichte der Gesetzesänderungen im Rahmen der polnischen Justizreform, aller polnischen einschlägigen Gerichtsverfahren und des internationalen Regelwerks (UN, OSCE, Europarat, Konsultativer Rat der Europäischen RichterInnen, GRECO usw.) sowie der Normen, Beschlüsse und Verfahren der EU-Organe zur Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit getroffen wurde.
Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung (Download, PDF) und den Volltext der Entscheidung (jeweils in englischer Sprache).