Fachinfos - Judikaturauswertungen 14.11.2024

EGMR: Unwählbarkeit wegen früherer politischer Tätigkeit

EGMR 25.07.2024, 42221/18, Ždanoka gg. Lettland (Nr. 2)

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat entschieden, dass ein gesetzlicher Ausschluss vom passiven Wahlrecht bei nationalen Wahlen aufgrund einer früheren antidemokratischen politischen Tätigkeit mit dem Recht auf freie Wahlen gemäß Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls (ZP) zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar sein kann: Er muss einem legitimen Zweck dienen und verhältnismäßig sein. Die Umstände des Ausschlusses müssen hinreichend bestimmt und vorhersehbar sein. Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit ist auf die konkrete historische und politische Lage des Staates abzustellen und es kommt dem Mitgliedstaat ein gewisser Beurteilungsspielraum zu.

Sachverhalt

Die Beschwerdeführerin ist lettische Staatsbürgerin und war bis 1991 hochrangige Funktionärin der kommunistischen Partei Lettlands (KPL). Die KPL wurde in Folge der Unabhängigkeitserklärung Lettlands von der Sowjetunion aufgrund mehrerer Versuche eines Staatsstreichs 1991 für verfassungswidrig erklärt und aufgelöst. Die Beschwerdeführerin war nach der Auflösung der KPL politisch weiter aktiv und von 2004 bis 2024 Abgeordnete zum Europäischen Parlament (EP).

Sie hatte 1998 und 2002 eine Kandidatur bei den lettischen Parlamentswahlen angestrebt, diese war ihr jedoch untersagt worden. Die lettische Wahlbehörde berief sich hierbei auf Art. 5 Abs. 6 des Parlamentswahlgesetzes, wonach Personen, die sich – wie die Beschwerdeführerin – nach dem 13. Jänner 1991 (erster Staatsstreich) noch an Aktionen der KPL beteiligt hatten, vom passiven Wahlrecht ausgeschlossen sind. In Folge ihres Ausschlusses von der Kandidatur im Jahr 2002 hatte sich die Beschwerdeführerin an den EGMR gewandt und geltend gemacht, dass Art. 5 Abs. 6 des Parlamentswahlgesetzes das Recht auf freie Wahlen gemäß Art. 3 des 1. ZP zur EMRK verletze. Der EGMR stellte daraufhin jedoch fest, dass die angefochtene Bestimmung keine Verletzung des Rechts auf freie Wahlen nach der EMRK darstelle (EGMR 16.03.2006, 58278/00 [GK], Ždanoka gg. Lettland). Der Ausschluss vom Wahlrecht diene legitimen Zwecken und sei weder willkürlich noch unverhältnismäßig. Zur Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Bestimmung müsse auf die individuellen politisch-historischen Umstände im Mitgliedstaat abgestellt werden, wobei diesem hierbei ein Beurteilungsspielraum zukomme. Dieser sei im konkreten Fall nicht überschritten worden. Der damit grundsätzlich konventionskonforme gesetzliche Ausschluss vom Wahlrecht sei allerdings vom lettischen Parlament regelmäßig auf seine weitere Zweck- und Verhältnismäßigkeit hin zu überprüfen. 

Im Jahr 2018 wurde der Beschwerdeführerin eine Kandidatur für die Union russischer Parteien ("Latvijas Krievu savienība") bei den Parlamentswahlen erneut verweigert. Auch das lettische Verfassungsgericht bestätigte Art. 5 Abs. 6 des Parlamentswahlgesetzes als verfassungskonform, legte diesen aber dahingehend neu aus, dass auch die konkrete Gefahr, die von der betroffenen Person gegenwärtig noch ausgehe, im Verfahren über den Ausschluss zu berücksichtigen sei.

Die Beschwerdeführerin wandte sich daraufhin mit der vorliegenden Beschwerde erneut an den EGMR, wobei sie sich weitgehend auf dieselben Beschwerdegründe stützte wie zuvor. Zusätzlich brachte sie vor, dass Lettland es verabsäumt habe, eine regelmäßige Überprüfung der weiteren Zweck- und Verhältnismäßigkeit der Bestimmung vorzunehmen. Ein Ausschluss von der Kandidatur bei nationalen Parlamentswahlen aufgrund von Vorfällen, die bereits rund 30 Jahre zurücklagen, könne nicht mehr als verhältnismäßig beurteilt werden. Die nunmehr im Ausschlussverfahren zusätzlich geforderte Bewertung der gegenwärtigen Gefahr, die von der politischen Tätigkeit der:des Betroffenen ausgeht, sei für die Beschwerdeführerin unvorhersehbar gewesen; diese Bewertung erfolge zudem willkürlich.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Der EGMR hielt zunächst fest, dass die bereits in der Rechtssache Ždanoka gg. Lettland (siehe oben) etablierten Grundsätze zur Rechtmäßigkeit und insbesondere zum legitimen Ziel der bekämpften Bestimmung des lettischen Wahlgesetzes auf den gegenständlichen Fall weiter Anwendung fänden.

Die angefochtene Beschränkung sei hinreichend vorhersehbar und diene legitimen Zwecken, insbesondere dem Schutz der demokratischen Ordnung, der nationalen Sicherheit und der Unabhängigkeit des lettischen Staates. Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit müssten der spezifische politisch-historische Kontext wie auch die aktuellen Umstände betrachtet werden und es sei dem Mitgliedstaat hier ein gewisser Beurteilungsspielraum einzuräumen. Seit der Entscheidung der Großen Kammer des EGMR in der Rechtssache Ždanoka gg. Lettland sei es nach Ansicht des EGMR durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine zu einer erheblichen Änderung der politischen Lage in Europa gekommen. Lettland (und der Rest Europas) könne nicht mehr von derselben Stabilität und nationalen Sicherheit ausgehen, auf die sich der EGMR bei seiner Entscheidung im Jahr 2006 bezogen habe. Lettland habe angesichts der politischen Lage zunehmend berechtigte Gründe, seine Sicherheit, territoriale Integrität und die Wahrung der demokratischen Ordnung bedroht zu sehen. Diese zunehmende Bedrohungslage erfordere einen noch größeren Beurteilungsspielraum, der dem Mitgliedstaat zum Schutz dieser Werte einzuräumen sei. Der lettische Gesetzgeber habe seinen Spielraum daher im vorliegenden Fall weiterhin nicht überschritten; die Aufrechterhaltung der angefochtenen Beschränkung sei in diesem spezifischen politischen Kontext und im Hinblick auf die politisch besonders sensible Rolle einer:eines Parlamentsabgeordneten nicht ungerechtfertigt.

Die Neuauslegung der Bestimmung durch das Verfassungsgericht dahingehend, dass nur Personen vom Wahlrecht ausgeschlossen werden dürfen, die die Unabhängigkeit und demokratische Ordnung Lettlands in Hinblick auf die gegenwärtige politische Lage auch weiterhin gefährden, liege im Rahmen der Auslegungsbefugnis des lettischen Verfassungsgerichts und sei weder willkürlich noch unangemessen. Diese Neuauslegung stelle tatsächlich sogar eine Einschränkung der gesetzlichen Ausschlussmöglichkeit dar, wobei die Beschwerdeführerin bereits die nach alter Auslegung bestehenden Bedingungen für den Ausschluss vom Wahlrecht erfülle und ihr durch die einschränkende Auslegung daher auch kein Nachteil erwachse.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung (jeweils in englischer Sprache).