Fachinfos - Judikaturauswertungen 12.06.2025

EGMR: Versammlungsfreiheit vs. Öffnungszeiten öffentlicher Gebäude

EGMR 27.5.2025, 29791/21 u.a., Kári Orrason u.a. gg. Island

Die Beschwerdeführer:innen wurden zu geringen Geldstrafen verurteilt, weil sie sich weigerten die Lobby des Justizministeriums, in der sie eine friedliche Protestaktion durchgeführt hatten, nach Ende der Öffnungszeiten zu verlassen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied, dass das Verhalten der Behörden nicht unangemessen gewesen sei, und keinen unverhältnismäßigen Eingriff in die Versammlungsfreiheit dargestellt habe.

Sachverhalt

Am 5. April 2019, kurz vor 16 Uhr, betraten neun Personen, darunter die drei Beschwerdeführer:innen, die Lobby des isländischen Justizministeriums. Die Öffnungszeiten des Ministeriums waren von 8.30 bis 16 Uhr. Kurz nach 16 Uhr traf die Polizei ein und forderte die Demonstrant:innen auf, das Gebäude zu verlassen. Vier Personen gingen freiwillig; fünf weitere aber, darunter die Beschwerdeführer:innen, blieben. Sie wurden sodann gewaltsam abgeführt, verhaftet und einige Stunden später aus dem Polizeigewahrsam entlassen. Im Anschluss daran wurden sie strafrechtlich verfolgt und zu einer geringen Geldstrafe verurteilt.

Dagegen richteten die Beschwerdeführer:innen nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges Beschwerden an den EGMR. Unter anderem brachten sie vor , ihre strafrechtliche Verurteilung wegen der Teilnahme an einer friedlichen Sitzdemonstration in der Lobby des Justizministeriums sei unverhältnismäßig gewesen. Die Polizei habe keine Toleranz gegenüber zivilen Protesten gezeigt und die Strafverfolgung habe darauf abgezielt, ihre politischen Ansichten zum Schweigen zu bringen und weitere Proteste zu verhindern. Sie seien nur eine kurze Zeit in der Lobby geblieben, bevor sie entfernt worden seien, und ihnen sei nicht genügend Zeit gegeben worden, um freiwillig zu gehen. Sie hätten nicht gewusst, wann genau das Justizministerium geschlossen werden sollte. Die Polizei habe es versäumt, ihnen dies verständlich zu erklären. Außerdem seien sie in einem Strafverfahren verurteilt worden und hätten daher erhebliche Prozesskosten zu tragen gehabt.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Einleitend führte der EGMR aus, er habe die Beschwerden gemäß Art. 11 EMRK, ausgelegt im Lichte von Art. 10 EMRK, geprüft.

Die Beschwerden seien zulässig: Das Vorbringen von Seiten der isländischen Regierung, die Anträge seien wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs insoweit für unzulässig zu erklären werden als die Beschwerdeführer:innen sich vor dem erstinstanzlichen innerstaatlichen Gericht (Bezirksgericht) nicht auf die EMRK berufen hätten, sei nicht zu teilen. Bereits in früheren Fällen seien Einwände zurückgewiesen worden, wonach die Konventionsgründe nicht bereits in erster Instanz, sondern erst im Berufungsverfahren vorgebracht und geprüft worden seien. Es stehe fest, dass die Beschwerdeführer:innen sich im Rechtsmittelverfahren auf die EMRK berufen hätten und das zweitinstanzliche innerstaatliche Gericht (Berufungsgericht) habe daher Gelegenheit gehabt, über die Verletzung der EMRK im vorliegenden Fall zu entscheiden.

Zur Unbegründetheit der Beschwerden: Der EGMR hielt zunächst fest, dass die in Art. 11 EMRK vorgesehene Versammlungsfreiheit eng mit der durch Art. 10 EMRK garantierten Meinungsäußerungsfreiheit verbunden sei, da der durch diese gewährleistete Schutz der Äußerung der persönlichen Meinung zu den Zielen der Versammlungsfreiheit, wie sie in Art. 11 EMRK verankert sei, gehöre. Art. 10 EMRK sei im Verhältnis zu Art. 11 EMRK als lex generalis, Art. 11 EMRK somit als eine lex specialis zu werten.

Hinsichtlich der Frage, ob ein Eingriff in die Ausübung des Rechts auf Versammlungsfreiheit erfolgt sei: Die Beschwerdeführer:innen seien nicht wegen der Teilnahme an einer Demonstration verurteilt worden, hätten sich aber geweigert einer polizeilichen Anweisung Folge zu leisten. Da die Beschwerdeführer:innen nicht "irgendeine verwerfliche Handlung" begangen oder "ein körperliches Verhalten" an den Tag gelegt hätten, das "vorsätzlich den normalen Ablauf des Lebens behindert und die von anderen ausgeübten Tätigkeiten ernsthaft gestört habe", stelle die strafrechtliche Verfolgung einen Eingriff in das Recht der Beschwerdeführer:innen auf Versammlungsfreiheit gemäß Art. 11 EMRK dar.

Nach Ansicht des EGMR beruhe der Eingriff aber auf einer gesetzlichen Grundlage und habe ein legitimes Ziel verfolgt: Die angewendete Bestimmung des innerstaatlichen Gesetzes (Polizeigesetz) beziehe sich ausdrücklich auf die Pflicht zur Befolgung von polizeilichen Anordnungen, etwa zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung im öffentlichen Raum, und verfolge damit das legitime Ziel des Schutzes der öffentlichen Ordnung und der Rechte und Freiheiten anderer.

Zur Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft und insbesondere zur Frage, ob der Mitgliedstaat seinen Beurteilungsspielraum überschritten habe, als er der Auffassung war, dass die Beschwerdeführer:innen nicht berechtigt seien, sich nach der Schließung des Gebäudes in dem Gebäude aufzuhalten: Hierzu verwies der EGMR auf die Rechtssache Kudrevičius u.a. (vgl. EGMR 15.10.2015, 37553/05 u.a. gg. Litauen) in der die Grundsätze für die Interessenabwägungen zwischen den Rechten von Demonstrant:innen einerseits und anderen Mitgliedern der Öffentlichkeit andererseits festgelegt worden seien, wenn eine Demonstration an einem öffentlichen Ort stattfindet. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hätten die Behörden des Mitgliedstaats gegenüber den Protesten innerhalb des Gebäudes nach Ende der Öffnungszeiten nicht unangemessen reagiert. Der EGMR betonte dazu insbesondere, dass die Beschwerdeführer:innen die Möglichkeit gehabt hätten, vor dem Justizministerium weiter zu demonstrieren.

Betreffend die Art und Schwere der verhängten Sanktionen wurde zunächst ausführt, dass Sanktionen strafrechtlicher Natur grundsätzlich einer besonderen Rechtfertigung bedürften (vgl. Rechtssache Kudrevičius u.a.; siehe oben). Im konkreten Fall sei von den Beschwerdeführer:innen aber nicht bestritten worden, dass es sich um milde Geldbußen gehandelt habe. Das Vorbringen, wonach die Höhe der Prozesskosten unverhältnismäßig sei und eine abschreckende Wirkung von dieser ausgehe, wurde nicht geteilt, weil der größte Teil der Prozesskosten aus den Kosten der Verteidiger:innen bestanden habe.

Im Ergebnis liege somit keine Verletzung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit gemäß Art. 11 (ausgelegt im Lichte von Art. 10) EMRK vor.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung.