Der EGMR hob einleitend hervor, dass der Freiheitsentzug eines/einer (kandidierenden oder aktiven) Abgeordneten nicht automatisch zu einer Verletzung seines/ihres Rechts auf freie Wahlen führt. Mit Blick auf die Wichtigkeit der Freiheit und Sicherheit von Abgeordneten in einer demokratischen Gesellschaft müssten die nationalen Gerichte bei der Verhängung und/oder der Aufrechterhaltung einer Haft über eine/n Abgeordnete/n aber alle wesentlichen Interessen – insbesondere dessen/deren Recht auf freie politische Meinungsäußerung – berücksichtigen. Bei dieser Interessenabwägung sei vor allem zu beachten, ob die Vorwürfe gegen den/die Abgeordnete/n politischer Natur waren. In jedem Fall müsse der/die Abgeordnete eine angeordnete Maßnahme effektiv bekämpfen können und habe in diesem Zusammenhang das Recht auf eine inhaltliche Überprüfung der Maßnahme.
Demirtaş sei infolge seiner langen Untersuchungshaft für mehr als eineinhalb Jahre daran gehindert worden, seine parlamentarischen Aktivitäten auszuüben. Auch wenn ihm sein Sitz im Parlament weiterhin zukam und er die Möglichkeit hatte, schriftliche Anfragen einzubringen, sei er doch in der Ausübung seines Mandats und seiner Rechte gemäß Art. 3 1. ZPEMRK wesentlich eingeschränkt worden.
Die Verflechtung zwischen Art. 10 EMRK und Art. 3 1. ZPEMRK sei bei demokratisch gewählten Vertreter/inne/n, die aufgrund ihrer politischen Ansichten in Untersuchungshaft gehalten werden, besonders ausgeprägt. Dem EGMR zufolge ist stets streng zu prüfen, dass die Meinungsfreiheit von Abgeordneten gesichert bleibt, wobei jedoch auch die Grenzen der Meinungsfreiheit – insbesondere bei direkten oder indirekten Aufrufen zu Gewalt – berücksichtigt werden müssen. Im konkreten Fall sei aber, da die Untersuchungshaft von Demirtaş den Anforderungen des Art. 10 EMRK nicht gerecht geworden sei, auch eine Verletzung des Rechts auf freie Wahlen gemäß Art. 3 1. ZPEMRK gegeben.
Zudem stellte der EGMR klar, dass die Regel, wonach die Dauer einer Untersuchungshaft möglichst kurz sein muss, umso mehr für die Anhaltung von Abgeordneten gilt, da diese die Wähler/innen/schaft vertreten, auf deren Anliegen aufmerksam machen und deren Interessen vertreten.
Die türkischen Gerichte hätten im vorliegenden Fall nicht geprüft, ob Demirtaş für die ihm vorgeworfenen Taten parlamentarische Immunität zukam. Bereits dadurch hätten sie ihre verfahrensrechtlichen Verpflichtungen aus Art. 3 1. ZPEMRK außer Acht gelassen. Ebenso wenig hätten die Gerichte eine Interessenabwägung vorgenommen: Sie hätten nicht überprüft, ob die vorgeworfenen Taten in direktem Zusammenhang mit der politischen Aktivität von Demirtaş standen; zudem hätten sie nicht berücksichtigt, dass er nicht nur Abgeordneter war, sondern einer der Oppositionsführer/innen, deren politische Tätigkeit umso mehr geschützt werden müsse. Schließlich hätten die Gerichte nicht erläutert, aus welchem Grund eine weniger strenge Maßnahme als die Untersuchungshaft nicht ausgereicht hätte.
Der EGMR kam daher zum Schluss, dass das Verunmöglichen der Teilnahme an parlamentarischen Tätigkeiten einen ungerechtfertigten Eingriff in das Recht von Demirtaş darstellte, den Willen seiner Wähler/innen zum Ausdruck zu bringen, sodass im konkreten Fall auch Art. 3 1. ZPEMRK verletzt wurde.