Fachinfos - Judikaturauswertungen 27.01.2021

EGMR fordert Türkei zur Freilassung eines Politikers auf

Gefangenschaft eines führenden türkischen Oppositionspolitikers ist politisch motiviert. EGMR 22.12.2020, 14305/17, Demirtaş gg. Türkei (Nr. 2) (27. Jänner 2021)

Sachverhalt

Selahattin Demirtaş ist seit November 2016 in türkischer Haft. Er war von 2007 bis 2018 Abgeordneter in der Großen Nationalversammlung der Türkei (= dem türkischen Parlament) und bei seiner Festnahme einer der Co-Vorsitzenden der pro-kurdischen HDP (Halkların Demokratik Partisi). Demirtaş kandidierte 2014 und 2018 als Gegner von Recep Tayyip Erdoğan bei den Präsidentenwahlen – im Jahr 2018 als Gefangener.

Demirtaş wurde im November 2016 wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Organisation und der Anstiftung zur Ausübung von Straftaten in Untersuchungshaft genommen. Die Festnahme während aufrechten Mandats war möglich, weil das türkische Parlament im Mai 2016 mit Verfassungsänderung beschlossen hatte, dass alle Abgeordneten, deren Auslieferung zuvor beantragt worden war, ex lege ihre Immunität verlieren würden. So wurde 154 Abgeordneten – davon 55 Mitgliedern der HDP – die Immunität entzogen. Demirtaş erachtete seine Festnahme als politisch motiviert und von Präsident Erdoğan angeordnet, um die Opposition zum Schweigen zu bringen. Er erhob wiederholt Einspruch gegen die Untersuchungshaft, die immer verlängert wurde, und wandte sich auch an das türkische Verfassungsgericht, das seine Beschwerde aber als unzulässig zurückwies.

In seiner Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) behauptete Demirtaş u.a., in seinem Recht auf Freiheit gemäß Art. 5 EMRK und in seinem Recht auf freie Wahlen gemäß Art. 3 1. ZPEMRK verletzt zu sein. Zudem sei die Beschränkung dieser Rechte seines Erachtens nicht für die in der EMRK vorgesehenen Zwecke erfolgt, weshalb auch Art. 18 EMRK verletzt worden sei.

Die zuständige Kammer des EGMR kam im November 2018 zum Schluss, dass Demirtaş wegen der lange aufrechterhaltenen Untersuchungshaft in seinem Recht auf Haftentlassung während des Verfahrens gemäß Art. 5 Abs. 3 EMRK und zudem in seinem Recht auf freie Wahlen gemäß Art. 3 1. ZPEMRK verletzt wurde; zudem wurde festgestellt, dass die Beschränkung dieser Rechte nicht für die in der EMRK vorgesehenen Zwecke erfolgte, sodass auch Art. 18 EMRK verletzt wurde.

Die Rechtssache wurde auf Antrag beider Parteien an die Große Kammer des EGMR verwiesen.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Die Entscheidung des EGMR betrifft insbesondere folgende Punkte:

Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK)

Der EGMR stellte eingangs fest, dass die Aufhebung der Immunität von Demirtaş mittels Verfassungsänderung und die lange Aufrechterhaltung seiner Untersuchungshaft zweifelsohne einen Eingriff in sein Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 10 EMRK darstellten. Dieser Eingriff sei – mit Blick auf die Verfassungsänderung vom Mai 2016 und die strafgesetzlichen Bestimmungen betreffend terroristische Straftaten – zwar gesetzlich vorgesehen gewesen. Fraglich sei jedoch, ob die Auslegung und die Anwendung dieser gesetzlichen Bestimmungen für Demirtaş ausreichend vorhersehbar waren, und zwar in dem Moment, als er die Äußerungen traf, wegen derer er verfolgt wird.

Nach Ansicht des EGMR war der Eingriff für Demirtaş im Ergebnis nicht vorhersehbar: Die türkischen Gerichte hätten es nämlich zum einen völlig verabsäumt, im konkreten Fall Überlegungen zu seiner – trotz der Verfassungsänderung von 2016 weiterhin aufrechten – außerberuflichen Immunität anzustellen. Zum anderen sei es infolge der Verfassungsänderung nicht mehr erforderlich gewesen, dass das Parlament über die Aufhebung der Immunität im Einzelfall entscheidet: Vielmehr sei der Schutz der Immunität für gewisse Abgeordnete (vorwiegend der Opposition) – Demirtaş inkludiert – zur Gänze ausgehebelt worden; es habe sich dabei um einen einmaligen und beispiellosen, auf die Opposition abzielenden Missbrauch des Verfahrens zur Verfassungsänderung gehandelt, den Demirtaş in dieser Weise nicht vorhersehen hätte können.

Darüber hinaus seien die strafgesetzlichen Bestimmungen betreffend terroristische Straftaten von den türkischen Gerichten in einer willkürlichen Weise ausgelegt worden, sodass Demirtaş im Ergebnis kein angemessener Schutz vor willkürlichen Übergriffen geboten worden sei. Demirtaş sei daher in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 10 EMRK verletzt worden.

Recht auf freie Wahlen (Art. 3 1. ZPEMRK)

Der EGMR hob einleitend hervor, dass der Freiheitsentzug eines/einer (kandidierenden oder aktiven) Abgeordneten nicht automatisch zu einer Verletzung seines/ihres Rechts auf freie Wahlen führt. Mit Blick auf die Wichtigkeit der Freiheit und Sicherheit von Abgeordneten in einer demokratischen Gesellschaft müssten die nationalen Gerichte bei der Verhängung und/oder der Aufrechterhaltung einer Haft über eine/n Abgeordnete/n aber alle wesentlichen Interessen – insbesondere dessen/deren Recht auf freie politische Meinungsäußerung – berücksichtigen. Bei dieser Interessenabwägung sei vor allem zu beachten, ob die Vorwürfe gegen den/die Abgeordnete/n politischer Natur waren. In jedem Fall müsse der/die Abgeordnete eine angeordnete Maßnahme effektiv bekämpfen können und habe in diesem Zusammenhang das Recht auf eine inhaltliche Überprüfung der Maßnahme.

Demirtaş sei infolge seiner langen Untersuchungshaft für mehr als eineinhalb Jahre daran gehindert worden, seine parlamentarischen Aktivitäten auszuüben. Auch wenn ihm sein Sitz im Parlament weiterhin zukam und er die Möglichkeit hatte, schriftliche Anfragen einzubringen, sei er doch in der Ausübung seines Mandats und seiner Rechte gemäß Art. 3 1. ZPEMRK wesentlich eingeschränkt worden.

Die Verflechtung zwischen Art. 10 EMRK und Art. 3 1. ZPEMRK sei bei demokratisch gewählten Vertreter/inne/n, die aufgrund ihrer politischen Ansichten in Untersuchungshaft gehalten werden, besonders ausgeprägt. Dem EGMR zufolge ist stets streng zu prüfen, dass die Meinungsfreiheit von Abgeordneten gesichert bleibt, wobei jedoch auch die Grenzen der Meinungsfreiheit – insbesondere bei direkten oder indirekten Aufrufen zu Gewalt – berücksichtigt werden müssen. Im konkreten Fall sei aber, da die Untersuchungshaft von Demirtaş den Anforderungen des Art. 10 EMRK nicht gerecht geworden sei, auch eine Verletzung des Rechts auf freie Wahlen gemäß Art. 3 1. ZPEMRK gegeben.

Zudem stellte der EGMR klar, dass die Regel, wonach die Dauer einer Untersuchungshaft möglichst kurz sein muss, umso mehr für die Anhaltung von Abgeordneten gilt, da diese die Wähler/innen/schaft vertreten, auf deren Anliegen aufmerksam machen und deren Interessen vertreten.

Die türkischen Gerichte hätten im vorliegenden Fall nicht geprüft, ob Demirtaş für die ihm vorgeworfenen Taten parlamentarische Immunität zukam. Bereits dadurch hätten sie ihre verfahrensrechtlichen Verpflichtungen aus Art. 3 1. ZPEMRK außer Acht gelassen. Ebenso wenig hätten die Gerichte eine Interessenabwägung vorgenommen: Sie hätten nicht überprüft, ob die vorgeworfenen Taten in direktem Zusammenhang mit der politischen Aktivität von Demirtaş standen; zudem hätten sie nicht berücksichtigt, dass er nicht nur Abgeordneter war, sondern einer der Oppositionsführer/innen, deren politische Tätigkeit umso mehr geschützt werden müsse. Schließlich hätten die Gerichte nicht erläutert, aus welchem Grund eine weniger strenge Maßnahme als die Untersuchungshaft nicht ausgereicht hätte.

Der EGMR kam daher zum Schluss, dass das Verunmöglichen der Teilnahme an parlamentarischen Tätigkeiten einen ungerechtfertigten Eingriff in das Recht von Demirtaş darstellte, den Willen seiner Wähler/innen zum Ausdruck zu bringen, sodass im konkreten Fall auch Art. 3 1. ZPEMRK verletzt wurde.

Beschränkung der Rechte für einen nicht in der EMRK vorgesehenen Zweck (Art. 18 EMRK)

Der EGMR sprach schließlich aus, dass die Untersuchungshaft von Demirtaş den Hintergedanken verfolgte, die Meinungspluralität und die Freiheit der politischen Debatte zu unterdrücken. Dabei berücksichtigte der EGMR etwa folgende Umstände: Die Aufhebung der Immunität habe ausschließlich Mitglieder der Opposition getroffen; die Untersuchungshaft von Demirtaş sei kein Einzelereignis geblieben, sondern es seien mehrere Verhaftungen mit demselben Muster erfolgt; die Untersuchungshaft sei im zeitlichen Zusammenhang mit zwei besonders wichtigen Wahlkampagnen erfolgt.

Die Türkei wurde vom EGMR schließlich gemäß Art. 46 EMRK aufgefordert, Demirtaş unverzüglich freizulassen.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung (jeweils in englischer Sprache).