Fachinfos - Judikaturauswertungen 08.04.2020

EP kann Mandatsverlust nicht überprüfen

Europäisches Parlament kann die Ordnungsmäßigkeit eines ihm mitgeteilten Mandatsverlusts nicht überprüfen. EuG 3.3.2020, T-24/20 R, Junqueras i Vies gg. Parlament (8. April 2020)

Sachverhalt

Oriol Junqueras i Vies wurde im Jänner 2016 zum Vizepräsidenten der Autonomen Regierung Katalonien gewählt und im Anschluss an das Referendum zur Selbstbestimmung Kataloniens u.a. wegen Rebellion verhaftet. Junqueras i Vies kandidierte im Mai 2019 für das Europäische Parlament (EP) und wurde von der zentralen spanischen Wahlkommission mit Entscheidung vom 13. Juni 2019 als gewählter Abgeordneter bekannt gegeben. Sein Antrag, die Haftanstalt verlassen zu dürfen, um zur Ablegung des (nach spanischem Recht erforderlichen) Eides auf die spanische Verfassung nach Madrid reisen zu können, wurde allerdings abgelehnt: Die Wahlbehörden erklärten daraufhin seinen Sitz im EP für vakant.

Am 14. Oktober 2019 wurde Junqueras i Vies vom spanischen Höchstgericht (Tribunal Supremo) zu 13 Jahren Haft und zum Verlust aller öffentlichen Ämter verurteilt, einschließlich jener, die er aufgrund von Wahlen erworben hatte. Am 19. Dezember 2019 entschied der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) auf Vorlage des Tribunal Supremo, dass die Qualität als Mitglied des EP mit der offiziellen Verkündung des Wahlergebnisses erworben wird – im Fall von Junqueras i Vies war dies der 13. Juni 2019 – und auch die Immunität mit diesem Zeitpunkt zu wirken beginnt (C-502/19). Am 20. Dezember 2019 beantragte die Abgeordnete Diana Riba i Gener daher im Namen von Junqueras i Vies beim Präsidenten des EP Sofortmaßnahmen, damit Junqueras i Vies sofort Immunität zukomme.

Die zentrale spanische Wahlkommission erklärte Junqueras i Vies am 3. Jänner 2020 wegen der gegen ihn verhängten Haftstrafe für unwählbar. Das Tribunal Supremo entschied am 9. Jänner 2020, dass es mit Blick auf die Entscheidung des EuGH vom Dezember 2019 weder geboten sei, Junqueras i Vies für seine Tätigkeit als Mitglied des EP freizulassen, noch dass seine Verurteilung vom Oktober 2019 aufgehoben werden müsse. Im Zeitpunkt der Wahl seien die Ermittlungen gegen Junqueras i Vies schon abgeschlossen gewesen und das Gericht sei bereits in die Entscheidungsfindung eingegangen gewesen: Junqueras i Vies sei daher nicht von der Immunität eines Mitglieds des EP geschützt gewesen.

Mit Blick auf die Erklärung der Wahlkommission und die Entscheidung des Tribunal Supremo erklärte das EP den Sitz von Junqueras i Vies am 13. Jänner 2020 mit Wirkung vom 3. Jänner 2020 für vakant. Junqueras i Vies erhob dagegen und gegen die (durch Nichttätigkeit implizit getroffene) Entscheidung des Präsidenten des EP, keine Sofortmaßnahmen zu treffen, eine Nichtigkeitsklage an das Gericht der Europäischen Union (EuG). Junqueras i Vies stellte zudem einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz.

Entscheidung des Vizepräsidenten des Gerichts der Europäischen Union

Der Vizepräsident des EuG wies eingangs die Klage gegen die (durch Nichttätigkeit implizit getroffene) Entscheidung des Präsidenten des EP, keine Sofortmaßnahmen zum Schutz der Immunität von Junqueras i Vies zu treffen, als unzulässig zurück: Im Verfahren sei nicht hervorgekommen, dass der Präsident des EP (aktiv) eine Entscheidung getroffen habe, die einer Nichtigkeitsklage zugänglich wäre.

Auch das Ersuchen von Junqueras i Vies an das EuG, dem EP aufzutragen, alle Maßnahmen zum Schutz seiner Privilegien und Immunitäten sowie seiner Grundrechte zu treffen, wies der Vizepräsident des EuG zurück. Dieses Ersuchen stehe nämlich in Widerspruch zu dem in Art. 266 AEUV enthaltenen Prinzip der Gewaltenteilung: Demnach könnten die Gerichte der Europäischen Union nicht anstelle des EP entscheiden, in welcher Weise letzteres einer Nichtigkeitsentscheidung der Gerichte Rechnung trägt.

Junqueras i Vies hatte das EuG zudem darum ersucht, Spanien seine Freilassung aufzutragen, damit er seine Aufgaben als Mitglied des EP ausüben könne. Auch dieses Ersuchen wies der Vizepräsident des EuG als unzulässig zurück: Ein/e Richter/in, der/die über einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz zu entscheiden hat, könne nämlich Personen oder Organisationen, die nicht Verfahrensparteien sind – wie im konkreten Fall das Königreich Spanien –, keine Anordnungen erteilen.

Schließlich hatte Junqueras i Vies das EuG darum ersucht, die Erklärung des EP vom 13. Jänner 2020 für nichtig zu erklären, mit der dieses seinen Sitz im EP für vakant erklärt hatte. Dem Vizepräsidenten des EuG zufolge hat Junqueras i Vies allerdings nicht ausreichend dargelegt, dass sein Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht notwendig ist. Der Direktwahlakt (Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments) sehe vor, dass ein Mitglied des EP sein Mandat automatisch verliert, wenn ein (im nationalen Recht des jeweiligen Mitgliedstaates festgelegter) Mandatsverlustgrund eintritt. Diesfalls werde das EP von den Behörden des Mitgliedstaates lediglich darüber unterrichtet, dass und zu welchem Zeitpunkt der Mandatsverlust eingetreten ist. Das EP habe aber, weil es über diesen Umstand lediglich informiert wird, keine Möglichkeit zu überprüfen, ob der Mandatsverlust ordnungsgemäß eingetreten ist. Am 13. Jänner 2020 habe das EP daher im Wesentlichen bloß (wiederholend) erklärt, dass der Sitz von Junqueras i Vies im EP mit Wirkung vom 3. Jänner 2020 vakant geworden ist: Es habe in diesem Zusammenhang allerdings keine Befugnis gehabt, die Ordnungsmäßigkeit des nationalen Mandatsverlustverfahrens zu überprüfen.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung (in englischer Sprache) und den Volltext der Entscheidung (in französischer Sprache).