Fachinfos - Judikaturauswertungen 11.08.2022

EuGH: Rechtsstaatlichkeit in Ungarn und Polen

Klagen Ungarns und Polens gegen den Konditionalitätsmechanismus abgewiesen; Frage der Verwendung vertraulicher Dokumente des juristischen Dienstes (11. August 2022)

EuGH 16.2.2022, C-156/21 und C-157/21, Ungarn und Polen gg. Parlament und Rat

Die Regierungen Ungarns und Polens versuchten, eine Verordnung der EU zu bekämp­fen, nach der bei Verstößen gegen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit eine Kürzung der EU-Mittel für einen Mitgliedstaat erfolgt. Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat festgestellt, dass dieser Mechanismus im Einklang mit den Zuständigkeiten der EU steht.

Sachverhalt

Seit 2013 ist die EU mit Verstößen gegen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit in meh­reren Mitgliedstaaten befasst. Um darauf in angemessener Weise reagieren zu können, haben Parlament und Rat am 16.12.2020 die Verordnung 2020/2092 über eine allge­meine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union (ABl. 2020, L 433I, S. 1) erlassen. Nunmehr kann der Rat bei Verstößen gegen den Grundsatz der Rechts­staatlichkeit auf Vorschlag der Kommission bestimmte Maßnahmen setzen. Das sind etwa die Aussetzung von Zahlungen der EU an den betroffenen Mitgliedstaat oder die Aussetzung der Genehmigung von Programmen, die aus Haushaltsmitteln der EU finan­ziert werden.

Ungarn und Polen haben vor dem EuGH jeweils Klage auf Nichtigerklärung dieser Ver­ordnung erhoben. Ihrer Ansicht nach gebe es für die Verordnung keine geeignete Rechtsgrundlage im EUV und im AEUV. Zudem würde das in Art. 7 EUV vorgesehene Verfahren bei Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung bzw. bei einer schwerwiegen­den oder anhaltenden Verletzung der Grundwerte der EU umgangen. Weiters führten Ungarn und Polen an, dass die Verordnung die Zuständigkeiten der EU überschreiben würde. Beide Staaten stützten ihre Argumente auf ein vertrauliches Gutachten des Ju­ristischen Dienstes des Rates, das sich auf einen Entwurf für die Verordnung bezogen hatte.

Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union

Der EuGH hat die Klagen auf Nichtigerklärung in vollem Umfang abgewiesen.

In seiner Entscheidung hat sich der EuGH zunächst mit der Frage befasst, ob Ungarn im Rahmen der Klagserhebung vertrauliche Dokumente des Juristischen Dienstes des Ra­tes verwenden durften. Dies erfolgte nämlich ohne Zustimmung des Rates. Der EuGH hält fest, dass Ungarn grundsätzlich verpflichtet gewesen ist, die Vertraulichkeit zu wahren. Allerdings sei auch das Prinzip der Offenheit und Transparenz zu beachten, wie es die Art. 1 und 10 Abs. 3 EUV sowie weitere Bestimmungen des AEUV ausgestalten. Diese Prinzipien stellen eine wesentliche Grundlage der EU dar, da sie Legitimität und Vertrauen sichern würden. Das sei von besonderer Bedeutung, wenn es um die Erlas­sung neuer Rechtsvorschriften gehe. Nur so sei es den EU-Bürger:innen möglich, zu verstehen, welchen Inhalt und welche Auswirkungen die Regelung habe. Daher bestehe ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Veröffentlichung und Nutzung des Gutachtens.

Im Hinblick auf die Rechtsgrundlage der bekämpften Verordnung stellte der EuGH fest, dass das in der Verordnung vorgesehene Verfahren nur unter besonderen Bedingungen eingeleitet werden kann. Es müssten zum einen hinreichende Gründe für die Feststel­lung vorliegen, dass in einem Mitgliedstaat gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlich­keit verstoßen werde. Zum anderen müssten diese Verstöße die wirtschaftliche Füh­rung des Haushalts der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen hinreichend unmittelbar beeinträchtigen oder ernsthaft zu beeinträchtigen drohen. Schließlich dürf­ten sich die Maßnahmen, die getroffen werden, ausschließlich auf die Ausführung des Haushaltplans beziehen. Damit ergibt sich für den EuGH, dass das Ziel der Verordnung darin besteht, den Unionshaushalt vor Beeinträchtigungen zu schützen, die sich hinrei­chend unmittelbar aus Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit erge­ben. Die Verordnung habe nicht das Ziel, diese Verstöße als solche zu ahnden.

Der EuGH betonte, dass der Haushalt der Union eines der wichtigsten Instrumente sei, mit denen der Grundsatz der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten konkretisiert werden könne. Daher sei er besonders auf das gegenseitige Vertrauen der Mitglied­staaten in die verantwortungsvolle Verwendung der Haushaltsmittel angewiesen. Ver­stöße gegen die Grundsätze der Rechtstaatlichkeit könnten die wirtschaftliche Führung des Haushalts und die finanziellen Interessen der EU jedoch schwer beeinträchtigen. Daher könne der „Konditionalitätsmechanismus“ der Verordnung unter die der EU durch die Verträge verliehene Zuständigkeit fallen, „Haushaltsvorschriften“ über die Ausführung des Haushaltsplanes der EU zu erlassen.

Aus diesen Gründen könne die Verordnung auch nicht als Umgehung der sogenannten Artikel-7-Verfahren verstanden werden, da dieses andere Ziele verfolge. Da Kommis­sion und Rat im Sinne der Verordnung nur Umstände oder Verhaltensweisen prüfen können, die den Behörden eines Mitgliedstaats zurechenbar sind und für die wirtschaft­liche Führung des Haushalts der Union von Bedeutung erscheinen, werden auch nicht die Grenzen der Zuständigkeiten der Union überschritten.

Vgl. zu diesen Verfahren die Pressemitteilung und die Volltexte der Entscheidungen C-156/21 und C‑157/21 (in englischer Sprache).