Am 30. Juli 2021 erließ der Vizepräsident des EuG nun eine neuerliche Entscheidung und beendete damit die provisorische Aufhebung der parlamentarischen Immunität. Zur Begründung wurde angeführt, eine vorläufige Aussetzung von Akten der Europäischen Union (EU) könne in Verfahren vor dem EuG nur in Ausnahmefällen vorgenommen werden. Voraussetzung sei, dass der einstweilige Rechtsschutz rechtlich und faktisch gerechtfertigt sei. Zudem müsse er dringlich sein, weil andernfalls bis zur Entscheidung in der Hauptsache objektiv und mit hoher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter und irreparabler Schaden für die BeschwerdeführerInnen drohe. Eine solche einstweilige Anordnung durch das Gericht dürfe nur so lange aufrechterhalten werden, als diese Voraussetzungen erfüllt seien.
Die Voraussetzung der Dringlichkeit sei im vorliegenden Fall aber insbesondere deshalb nicht gegeben, weil die mutmaßliche Rechtswidrigkeit eines Aktes allein die Gefahr eines ernsthaften und irreparablen Schadens nicht begründen könne.
Im konkreten Fall lasse die Entscheidung des EP zur Aufhebung der Immunität den Abgeordneten zudem die Freiheit, zu Sitzungen des EP zu reisen; diese sei nicht aufgehoben worden. Es drohe ihnen daher keine Verhaftung auf einer Reise zu oder von einer Sitzung des Parlaments in Straßburg.
Zwar sei ein Europäischer Haftbefehl gegen die Abgeordneten erlassen worden; im Zuge eines solchen obliege es aber der mitgliedstaatlichen Behörde, die den Haftbefehl ausführt, eine endgültige Entscheidung über die Verhaftung zu treffen. Die Entstehung eines Schadens durch eine Verhaftung sei daher von weiteren Faktoren, nämlich der Entscheidung der verhaftenden Behörde, abhängig und entstehe nicht bereits mit der Aufhebung der parlamentarischen Immunität.
Weiters hätten die Abgeordneten die hinreichende Wahrscheinlichkeit ihrer Verhaftung und ihrer Auslieferung an die spanischen Behörden und damit des drohenden Schadens nicht dargelegt. Sie hätten etwa nicht nachweisen können, dass die belgischen Behörden, in deren örtlichem Wirkungsbereich sich die Abgeordneten aufhielten, irgendwelche Schritte zur Durchsetzung des Europäischen Haftbefehls unternommen hätten.
Zudem sei im Zusammenhang mit dem Europäischen Haftbefehl gegen die Abgeordneten ein Vorabentscheidungsverfahren beim Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) anhängig, das laut Angabe der spanischen Behörden zur Aussetzung des bei ihnen anhängigen Strafverfahrens und des Europäischen Haftbefehls führe. Solange dieses Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH anhängig sei, sei daher nicht mit einer Verhaftung und Auslieferung an Spanien durch die belgischen Behörden oder die Behörden eines anderen Mitgliedstaats zu rechnen.
Im Ergebnis könne vor diesem Hintergrund derzeit nicht angenommen werden, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter und irreparabler Schaden für die Abgeordneten drohe. Schon deshalb sei eine provisorische Aussetzung der Entscheidung des EP nicht gerechtfertigt. Für den Fall, dass sich dies ändere, weil sich etwa konkrete Anhaltspunkte ergäben, dass eine Behörde eines Mitgliedstaates den Europäischen Haftbefehl umsetzen wolle, so stehe es den Abgeordneten frei, einen erneuten Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zu stellen, über den dann neu entschieden würde.
Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung (nur in französischer Sprache) und den Volltext der Entscheidung.