Fachinfos - Judikaturauswertungen 20.01.2022

Europäisches Parlament: Rechtsschutz gegen Aufhebung der Immunität

Erneut kein einstweiliger Rechtsschutz gegen die Aufhebung der parlamentarischen Immunität des Abgeordneten Puigdemont im Europäischen Parlament (20. Jänner 2022)

Vizepräsident des EuG 26.11.2021, T-272/21 R II

Der Vizepräsident des Europäischen Gerichts (EuG) hat den neuerlichen Antrag des Abgeordneten Carles Puigdemont und anderer Abgeordneter auf Aussetzung der Aufhebung der parlamentarischen Immunität abgelehnt. Die vorgebrachten neuen Umstände seien nicht geeignet, die in der vorigen Entscheidung getroffenen rechtlichen Erwägungen hinsichtlich des Vorliegens eines ernsthaften und irreparablen Schadens zu hinterfragen. Insbesondere ändere sich nichts an der Beurteilung, dass das gegen die betroffenen Personen in Spanien anhängige Strafverfahren und die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls während der Anhängigkeit eines diesbezüglichen Vorabentscheidungsverfahrens vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) ausgesetzt seien.

Sachverhalt

Im Jänner und Februar 2020 hatte der Präsident des Spanischen Obersten Gerichtshofes beim Europäischen Parlament (EP) die Aufhebung der parlamentarischen Immunität des Abgeordneten Carles Puigdemont sowie einiger anderer Mitglieder des EP im Zuge eines in Spanien anhängigen Strafverfahrens und eines damit im Zusammenhang stehenden Europäischen Haftbefehls gegen die betroffenen Personen beantragt. Das EP hob daraufhin die parlamentarische Immunität der Abgeordneten auf, wogegen diese sich mit einem Antrag an das EuG wendeten. Mit Beschluss vom 2. Juni 2021 ordnete der Vizepräsident des EuG an, die Vollziehung der Entscheidungen des EP zur Aufhebung der Immunität bis zu einer endgültigen Entscheidung vorläufig auszusetzen. Am 30. Juli 2021 widerrief der Vizepräsident des EuG diese provisorische Aussetzung der Aufhebung der parlamentarischen Immunität, da den betroffenen Personen nach aktuellem Stand kein ernsthafter und irreparabler Schaden drohe.

Am 23. September 2021 wurde Puigdemont in Italien auf Grundlage des Europäischen Haftbefehls verhaftet und am folgenden Tag erneut freigelassen. Im Oktober 2021 stellten die Abgeordneten neuerlich einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz und legten zudem Berufung gegen die Abweisung ihres ersten Antrags ein.

Beschluss des Vizepräsidenten des Europäischen Gerichts

Am 26. November 2021 wies der Vizepräsident des EuG den zweiten Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz neuerlich mit Beschluss ab. Zwar sei ein solcher Antrag im Fall der Änderung der Sachlage grundsätzlich zulässig. Doch sei es den AntragstellerInnen nicht gelungen, durch die Vorlage neuer Beweise darzulegen, inwiefern die rechtliche Beurteilung im Zuge der ersten Antragstellung als überholt zu betrachten sei. Insbesondere würde keiner der vorgebrachten Gesichtspunkte die Erwägungen zu den Rechtswirkungen aus der Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens in Frage stellen. Der Vizepräsident bestätigte, dass die Anhängigkeit eines Vorabentscheidungsverfahrens beim EuGH unmittelbar zur Folge hat, dass das fragliche Strafverfahren sowie die Vollstreckung der ausgestellten Europäischen Haftbefehle ausgesetzt sind. Diese Aussetzung ergebe sich unmittelbar aus dem Unionsrecht, sei bindend für die zuständigen nationalen Behörden (einschließlich der Justiz) und erfordere keine gesonderte Entscheidung ihrerseits. Die Tatsache, dass Spanien den Europäischen Haftbefehl nach wie vor nicht aufgehoben habe, ändere an dieser Beurteilung nichts.

Der Vizepräsident betonte neuerlich, dass die Festnahme von Abgeordneten an sich keinen schweren und nicht wieder gutzumachenden Schaden darstellt. So sei die Mandatsausübung der Betroffenen nicht per se eingeschränkt und lasse die Entscheidung des EP zur Aufhebung der Immunität den Abgeordneten zudem die Freiheit, zu Sitzungen des EP zu reisen. Es drohe ihnen daher keine Verhaftung auf einer Reise zu oder von einer Sitzung des Parlaments in Straßburg.

Zudem würden die Umstände des konkreten Falls (Entlassung aus der Haft am Folgetag unter Bezugnahme auf die Erwägungen in der ersten einstweiligen Anordnung) darauf hindeuten, dass die Justizbehörden nicht beabsichtigen, den Europäischen Haftbefehl während der Anhängigkeit des Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH zu vollstrecken. Die betroffenen Abgeordneten würden somit nicht Gefahr laufen, an die spanischen Behörden ausgeliefert zu werden.

Zwar sei einzuräumen, dass gewisse Umstände darauf hinweisen, dass bestimmte nationale Behörden nicht alle Konsequenzen aus der Einleitung der Vorabentscheidung ziehen und dementsprechend das europarechtlichen Gebot der loyalen Zusammenarbeit missachten könnten. Doch könne eine solche rein hypothetische Annahme nicht Grundlage für die Feststellung des Vorliegens eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens sein.

Der Vizepräsident kam zu dem Schluss, dass die von den Abgeordneten vorgebrachten Aspekte nicht geeignet sind, die in der ersten einstweiligen Anordnung getroffenen Einschätzungen zur fehlenden Dringlichkeit der Anordnung der Aussetzung der Vollstreckung der Beschlüsse des Parlaments in Frage zu stellen. Die neu aufgekommenen Tatsachen würden nicht ausreichen, um die Entscheidung zur ersten Antragstellung zu hinterfragen.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung (in französischer Sprache, PDF) und den Volltext der Entscheidung (in englischer und französischer Sprache).