Fachinfos - Judikaturauswertungen 11.08.2022

Hinderung von Demonstrant:innen an der Anreise zu einer Demonstration

Hinderung von Demonstrant:innen an der Anreise zu einer Demonstration unter dem Deckmantel der Identitätsfeststellung war unzulässig (11. August 2022)

Sachverhalt

Im März 2012 wurde in der Türkei bekannt, dass das Gewerkschaftsgesetz und das Bildungssystem novelliert werden sollen. Einige Gewerkschaftsmitglieder beschlossen daraufhin, nach Ankara zu reisen, um gegen die geplante Gesetzesnovelle zu demonst­rieren. Kurz nach ihrer Abfahrt wurden ihre Reisebusse aber von Polizist:innen aufge­halten und sie wurden unter Hinweis darauf, dass alle Demonstrationen in Ankara von der dortigen Präfektur aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung untersagt worden seien, zur Umkehr aufgefordert. Da die Gewerkschaftsmitglieder nicht umkeh­ren wollten und sich gegenüber der Polizei nicht auswiesen, wurden sie verhaftet und zur Feststellung ihrer Identität in eine Polizeistation gebracht. Rund 15 Stunden später wurden sie freigelassen.

Die Gewerkschaftsmitglieder (Beschwerdeführer:innen) wandten sich an den EGMR und behaupteten, durch ihre Verhaftung unter anderem in ihrem Recht auf Freiheit (Art. 5 EMRK) und in ihrem Recht auf Versammlungsfreiheit (Art. 11 EMRK) verletzt worden zu sein.

Recht auf Freiheit (Art. 5 EMRK)

Dem EGMR zufolge wurden die Beschwerdeführer:innen zur Feststellung ihrer Identi­tät auf die Polizeistation gebracht, was im Rahmen des Art. 5 EMRK grundsätzlich einen zulässigen Festnahmegrund darstelle. Aus dem Polizeibericht ginge allerdings hervor, dass der Hauptgrund für die Festnahme und Inhaftierung der Beschwerdeführer:innen darin bestand, sie an der Reise nach Ankara und damit an der Teilnahme an einer für rechtswidrig erklärten Demonstration zu hindern.

Die Beschwerdeführer:innen seien im Übrigen erst nach 15 Stunden freigelassen wor­den, obwohl ihre Identität nach fünf Stunden festgestanden sei. Für die fortgesetzte Inhaftierung der Beschwerdeführer:innen während der letzten zehn Stunden habe es daher keinen rechtlich zulässigen Festnahmegrund gegeben. Auch daraus würde deut­lich, dass das eigentliche Ziel der Festnahme darin bestand, die Beschwerdefüh­rer:innen zu hindern, an einer Demonstration in Ankara teilzunehmen.

Im Übrigen hätten die türkischen Behörden nicht überzeugend dargelegt, dass die Be­schwerdeführer:innen aller Wahrscheinlichkeit nach an der Begehung einer konkreten und spezifischen Straftat teilgenommen hätten, wenn sie nicht durch die Festnahme daran gehindert worden wären. Die Beschwerdeführer:innen seien daher in ihrem Recht auf Freiheit (Art. 5 EMRK) verletzt worden.

Recht auf Versammlungsfreiheit (Art. 11 EMRK)

Dem EGMR zufolge lag das wahre Motiv bei der Festnahme der Beschwerdefüh­rer:innen darin, diese an der Reise nach Ankara und damit an der Teilnahme an einer Demonstration zu hindern. Demnach läge auch ein Eingriff in das Recht auf Versamm­lungsfreiheit vor. Da dieser auf eine Anordnung der Präfektur von Ankara gestützt wurde, sei er zwar iSd Art. 11 Abs. 2 EMRK vom Gesetz vorgesehen gewesen (wiewohl der EGMR diesbezüglich Zweifel an der Vorhersehbarkeit und Qualität der Anordnung der Präfektur als „Gesetz“ hegte). Der Eingriff verfolge überdies die legitimen Ziele der Verhinderung von Unruhen und des Schutzes der Rechte anderer.

Jedoch sei der Eingriff nicht verhältnismäßig gewesen: Der EGMR wiederholte, dass jede Demonstration an einem öffentlichen Ort eine gewisse Störung des gewöhnlichen Lebens verursachen kann. Dies allein rechtfertige jedoch noch keinen Eingriff in die Ausübung des Rechts auf Versammlungsfreiheit, da von den staatlichen Behörden eine gewisse Toleranz erwartet werden könne. Die Behörden hätten die Pflicht, bei recht­mäßigen Demonstrationen geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um einen friedlichen Verlauf und die Sicherheit aller Bürger:innen zu gewährleisten. Im konkreten Anlassfall schien es jedoch, dass die einzige Maßnahme, die gegenüber den Beschwerdefüh­rer:innen (und den anderen Demonstrant:innen) ergriffen worden war, darin bestand, ihnen die Reise nach Ankara gänzlich zu untersagen. Eine solche Maßnahme sei jeden­falls als unverhältnismäßig zu qualifizieren, sodass die Beschwerdeführer:innen auch in ihrem Recht auf Versammlungsfreiheit (Art. 11 EMRK) verletzt worden seien.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung (in englischer Sprache) und den Volltext der Entscheidung (in französischer Sprache).