Fachinfos - Judikaturauswertungen 08.01.2020

Immunität der Mitglieder des Europäischen Parlaments

Mitglieder des EP erwerben ihre Immunität im Zeitpunkt der Verkündung der Resultate durch ihren Mitgliedstaat. EuGH 19.12.2019, C-502/19, Junqueras Vies. (08. Jänner 2020)

Sachverhalt

Das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) erging im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens auf Vorlage des Spanischen Obersten Gerichtshofs (Tribunal Supremo).

Der Kläger des Ausgangsverfahrens, Herr Junqueras Vies, war im Rahmen der Durchführung des Referendums zur Selbstbestimmung Kataloniens zum Vizepräsidenten der Autonomen Regierung  Katalonien gewählt und im Anschluss daran im Zuge eines Strafverfahrens wegen Rebellion in Untersuchungshaft genommen worden. Während des Hauptverfahrens kandidierte er für das Europäische Parlament (EP) und wurde von der zentralen spanischen Wahlkommission mit Entscheidung vom 13. Juni 2019 als gewählter Abgeordneter bekannt gegeben. Nachdem gemäß Art. 224 des spanischen Wahlgesetzes die zum EP gewählten Personen einen Eid auf die spanische Verfassung ablegen müssen, beantragte Herr Junqueras Vies eine außerordentliche Erlaubnis, die Haftanstalt zu diesem Zwecke verlassen zu können. Nachdem ihm diese verweigert worden war, erließ die Wahlkommission eine Entscheidung, in der sie den Sitz von Herrn Junqueras Vies für vakant erklärte und übermittelte gleichzeitig dem EP eine Liste der in Spanien gewählten Angeordneten ohne den Namen von Herrn Junqueras Vies. 

Gegen die nicht erteilte Erlaubnis zum Verlassen der Haftanstalt zum Zwecke der Eidesleistung legte Herr Junqueras Vies unter Berufung auf Art. 9 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union (Protokoll Nr. 7) beim Tribunal Supremo Beschwerde ein.

Dieses setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH Fragen zum Geltungsbereich der Immunität der Mitglieder des EP vor. Gemäß Art. 9 des Protokolls Nr. 7 steht den Mitgliedern des EP während der Dauer seiner Sitzungsperiode im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit zu und sie können im Hoheitsgebiet jedes anderen Mitgliedstaats weder festgehalten noch gerichtlich verfolgt werden. Dies gilt auch während der Reise zum und vom Tagungsort des EP.

Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union

Die Entscheidung des EuGH betrifft insbesondere folgende Punkte:

Zum Begriff „Mitglied des Europäischen Parlaments“ in Art. 9 des Protokolls Nr. 7

In seinem Urteil unterstrich der EuGH, dass das Wahlverfahren zum EP und die Verkündung der Ergebnisse beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts vom Recht der Mitgliedstaaten geregelt sind und das EP über keine allgemeine Kompetenz verfügt, um deren Rechtmäßigkeit in Frage zu stellen. Die allgemeine, unmittelbare, freie und geheime Wahl der Mitglieder zum EP sei aber Ausdruck eines Verfassungsprinzips der repräsentativen Demokratie, dessen Reichweite vom Unionsrecht selbst definiert werde. Deshalb gehe aus Art. 14 Abs. 3 EUV iVm Art. 223 Abs. 1 AEUV sowie den Art. 8 und 12 des Wahlaktes von 1976 hervor, dass die Eigenschaft als Mitglied des EP mit und ab dem Zeitpunkt der Bekanntgabe der offiziellen Resultate durch die zuständige Behörde des Mitgliedstaates erworben wird und zwar ungeachtet eventueller zusätzlicher, vom nationalen Recht vorgesehener Formalitäten.

Zum zeitlichen Geltungsbereich der Immunität gemäß Art. 9 des Protokolls Nr. 7

Der EuGH unterstrich in seinem Urteil, dass die Unverletzlichkeit gemäß Art. 9 Abs. 2 des Protokolls Nr. 7 auch während der Reise zum und vom Tagungsort des EP gilt. Dies schließe insbesondere auch die Reise zur ersten Sitzung des EP nach der Verkündung der offiziellen Wahlresultate ein, um dessen konstituierende Sitzung am Beginn einer neuen Legislaturperiode und die Prüfung der Mandate zu ermöglichen. Die gewählten Mitglieder des EP kämen somit bereits vor dem Beginn ihres Mandats in den Genuss der Immunität gemäß Art. 9 des Protokolls Nr. 7. Der Zweck dieser Immunität bestehe nämlich einerseits darin, das Funktionieren und die Unabhängigkeit des EP zu gewährleisten und andererseits darin sicherzustellen, dass dessen Zusammensetzung den Willen der Wähler/innen wahrheitsgetreu und vollständig widerspiegelt. Der Kläger des Ausgangsverfahrens genoss nach dem Urteil des EuGH somit die von Art. 9 des Protokolls Nr. 7 gewährleistete Immunität ab dem 13. Juni 2019, dem Tag, an dem die spanische Wahlkommission die offiziellen Resultate der Wahl zum EP bekannt gab. 

Zu den Folgen und der Frage der eventuellen Aufhebung der Immunität iSd Art. 9 des Protokolls Nr. 7

Der EuGH kam in seinem Urteil zu dem Schluss, dass die Immunität iSd Art. 9 des Protokolls Nr. 7 einer restriktiven Maßnahme wie einer Untersuchungshaft entgegensteht und diese aufgehoben werden muss, um einer ins EP gewählten Person zu ermöglichen, an dessen konstituierender Sitzung teilzunehmen. Sollten die nationalen Behörden der Ansicht sein, die Untersuchungshaft sei weiterhin gerechtfertigt und aufrechtzuerhalten, müssten sie gemäß Art. 9 Abs. 3 des Protokolls Nr. 7 umgehend beim EP die Aufhebung der bestehenden Immunität beantragen.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung (in englischer Sprache) und den Volltext der Entscheidung (in französischer Sprache).