Fachinfos - Judikaturauswertungen 11.08.2022

Informationsverweigerung wegen nationaler Sicherheit

Informationsverweigerung: Nationale Sicherheit rechtfertigt knappe Begründung, wenn umfassende Verfahrensgarantien eingehalten wurden (11. August 2022)

EGMR 3.2.2022, 39325/20, Šeks gg. Kroatien

Gemäß dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) kommt den Mit­gliedsstaaten bei der Prüfung von Informationsbegehren, die die nationale Sicherheit berühren, ein großer Ermessensspielraum zu. Jedoch müssen auch in solchen Fällen umfassende Verfahrensgarantien greifen. Die Beschwerde eines ehemaligen Politikers, der für sein geplantes Buch zur Gründung der Republik Kroatien nicht alle aus dem Staatsarchiv gewünschten Dokumente erhielt, blieb ohne Erfolg.

Sachverhalt

Der Beschwerdeführer, Herr Vladimir Šeks, ein ehemaliger Politiker und u.a. von De­zember 2003 bis Jänner 2008 Präsident des kroatischen Parlaments, beantragte 2017 bei der Kanzlei des Staatspräsidenten den Zugang zu 56 Dokumenten aus dem Staats­archiv. Er benötige die Unterlagen für die Abfassung eines Buches zur Gründung der Republik Kroatien. Die Dokumente waren in der höchsten Geheimhaltungsstufe, näm­lich als „Staatsgeheimnis – streng vertraulich“, eingestuft. Daher holte der Staatspräsi­dent eine Stellungnahme bei der Kanzlei des Nationalen Sicherheitsrates (NSR) ein. Nach Durchsicht der Dokumente empfahl der NSR, 31 Dokumente zu deklassifizieren, d.h. die Vertraulichkeit aufzuheben. Die restlichen 25 Dokumente sollten jedoch streng vertraulich bleiben, ansonsten könnten die Unabhängigkeit und Integrität des Staates, die nationale Sicherheit und die Außenbeziehungen Schaden nehmen. Die Entschei­dung des Staatspräsidenten folgte dieser Stellungnahme. Somit wurde der Zugang zu 25 Dokumenten verweigert.

Im Rechtsmittelweg wandte sich Herr Šeks im September 2017 an die Informationsbe­auftragte, im September 2018 an den Verwaltungsgerichtshof und schließlich im De­zember 2018 an den Verfassungsgerichtshof. Nach dessen ablehnender Entscheidung erhob Herr Šeks Individualbeschwerde beim EGMR und machte eine Verletzung des Rechts auf Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) und des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) geltend. In allen nationalen Instanzen sei eine adäquate Verhältnismäßig­keitsprüfung unterblieben. Die Verweigerung des Dokumentenzugangs sei vom Staats­präsidenten nur hypothetisch – unter Anführung abstrakter Gründe – gerechtfertigt worden. Alle nachfolgenden Instanzen hätten lediglich angenommen, dass eine Verhält­nismäßigkeitsprüfung durchgeführt worden sei. Wenn jedoch ein Grundrecht be­schränkt werde, müsse der Staat überzeugend und im Detail darlegen, dass er die ge­wünschten Informationen einzeln geprüft habe und das Interesse an der Offenlegung und das Interesse an der Geheimhaltung gegeneinander abgewogen habe, aber auch welches Ziel er mit der Dokumentenverweigerung verfolge und warum auch ein parti­eller Zugang verweigert wurde.

Die Regierung bestritt die Zulässigkeit der Beschwerde. Aus Art. 10 EMRK resultiere kein allgemeines Recht auf Informationszugang. Der Beschwerdeführer sei ein pensio­nierter Politiker, der auf eigene Initiative und im eigenen Interesse forsche. Anders als dies bei Medien oder NGOs der Fall sei, sei es nicht seine Aufgabe, über öffentliche Angelegenheiten zu berichten.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Der EGMR befand die Beschwerde für zulässig. Die Verweigerung des Dokumentenzu­gangs stehe jedoch im Einklang mit Art. 10 EMRK. Eine Prüfung der Beschwerde gemäß Art. 6 EMRK sei nicht erforderlich gewesen.

Zur Zulässigkeit der Beschwerde hielt der EGMR fest, dass Art. 10 EMRK nur insoweit ein Recht auf Zugang zu Informationen bei staatlichen Stellen gewähre, als der Zugang zur Information für die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, vor allem die Freiheit zum Empfang und zum Mitteilen von Nachrichten oder Ideen, instrumentell sei und die Verweigerung des Zugangs einen Eingriff in dieses Recht darstelle. Der Be­schwerdeführer habe aber mit seinem Buch bezweckt, Leser:innen mit Detailinforma­tionen zur Staatsgründung zu versorgen. Informationen zur Gründung eines Staates seien zweifellos von öffentlichem Interesse. Autor:innen zu Themen von öffentlichem Interesse und Wissenschafter:innen würden gemäß Art. 10 EMRK besonderen Schutz genießen. Deshalb sei die Beschwerde zulässig.

In Bezug auf den Vorwurf der unzureichenden Begründung der Informationsverweige­rung hob der EGMR hervor, dass es sich hier um klassifizierte Dokumente handelt, die sich auf einen sensiblen Teil der jüngsten Geschichte Kroatiens beziehen. In der Ein­schätzung, was die nationale Sicherheit gefährde, komme den Staaten ein großer Er­messensspielraum zu. Aber selbst in diesen Fällen müssten grundrechtsbeeinträchti­gende Entscheidungen einer unabhängigen Stelle zur Überprüfung der Entscheidungs­gründe in einem kontradiktatorischen Verfahren vorgelegt werden können. Im gegen­ständlichem Fall sei das Informationsbegehren von fünf verschiedenen Stellen sorgfäl­tig geprüft worden, wobei mindestens zwei Stellen die gewünschten Dokumente selbst lesen konnten. Die Informationsbeauftragte, ein unabhängiges Organ zum Schutz, zur Beobachtung und Förderung des Rechts auf Informationszugang, konnte dergestalt die Entscheidung des Staatspräsidenten inhaltlich überprüfen. Auch der Verwaltungsge­richtshof hätte gemäß § 26 Abs. 3 Informationsfreiheitsgesetz den Zugang zu den strit­tigen Dokumenten erhalten können. Der Staatspräsident hätte seine Entscheidung auf die Stellungnahme einer auf die nationale Sicherheit spezialisierten Stelle gestützt. Schließlich sei zu beachten, dass in Angelegenheiten der nationalen Sicherheit Begrün­dungen nicht mit derselben Dichte an Details aufwarten können wie in anderen Ver­waltungsangelegenheiten, ansonsten würde der Zweck der Klassifizierung konterka­riert. In Anbetracht der umfassend gewährten Verfahrensgarantien befand der EGMR die Begründung für die Verweigerung des Dokumentenzugangs für zutreffend und aus­reichend. Der Grundrechtseingriff sei notwendig und verhältnismäßig gewesen.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung (jeweils in englischer Sprache).