Fachinfos - Judikaturauswertungen 11.08.2023

„Klimacamps“ können unter das Versammlungsrecht fallen

VfGH 15.6.2023, E 1135/2022, E 1142/2022

Das Verwaltungsgericht Wien (VwG) bestätigte die Zurückweisung von Versammlungsanzeigen zum "6. Österreichischen Klimacamp" im Jahr 2021 durch die Landespolizeidirektion Wien (LPD). Die Begründung, die im Rahmen des „Klimacamps“ geplant gewesenen Workshops, Summer Schools und ähnlichen Aktivitäten seien keine Versammlungen iSd Versammlungsgesetzes 1953 (VersG), sondern bloße Veranstaltungen, ließ der Verfassungsgerichtshof (VfGH) jedoch nicht gelten. Er behob die Entscheidungen des VwG wegen Verstoßes gegen die Versammlungsfreiheit.

Sachverhalt

Mit Eingaben vom 21. April und 4. Mai 2021 hatte die spätere Beschwerdeführerin bei der LPD als zuständiger Versammlungsbehörde gemäß § 2 Abs. 1 VersG die Abhaltung zweier Versammlungen rund um das Thema Klimagerechtigkeit an zwei Standorten im zehnten Wiener Gemeindebezirk angezeigt. Insgesamt hatte sie beim "6. Österreichischen Klimacamp" im Zeitraum von 23. bis 30. Mai 2021 ca. 800 Teilnehmer:innen erwartet. Mit Bescheiden vom 17. Mai 2021 wies die LPD beide Versammlungsanzeigen wegen Unzuständigkeit zurück. Die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden wies das VwG mit Erkenntnissen vom 18. Februar 2022 als unbegründet ab.

Begründend führte das VwG – im Anschluss an die LPD – im Wesentlichen aus, dass die im Rahmen des „Klimacamps“ geplant gewesenen Workshops, Summer Schools und ähnlichen Aktivitäten nicht als Versammlungen iSd VersG zu qualifizieren seien, sondern als bloße Veranstaltungen nach dem Wiener Veranstaltungsgesetz 2020. Für Veranstaltungen sei die LPD jedoch nicht zuständig. Zwar sollten beim „Klimacamp“ unbestritten Aktivitäten zur politischen Willensbildung gesetzt werden. Jedoch hätten einige Aktivitäten fixe Teilnehmer:innenzahlen und es seien Geldbeträge der Beteiligten zur Bereitstellung von Essen, Getränken und Kinderbetreuung sowie zur Entlohnung von Vortragenden erforderlich. Für das Gericht zeige sich daher das Bild einer Veranstaltung(sreihe), hinter der ein aufwändiger und planerischer Organisationsaufwand stehe, der u.a. die Spontanität einer Versammlung vermissen lasse.

Gegen diese Entscheidungen des VwG erhob die Beschwerdeführerin in der Folge Beschwerden gemäß Art. 144 B‑VG an den VfGH, in denen sie insbesondere eine Verletzung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit (Art. 12 StGG, Art. 11 EMRK) geltend machte. Begründend führte sie im Wesentlichen aus, dass das VwG den Versammlungsbegriff des VersG zu Unrecht als nicht erfüllt angesehen habe, indem es sich nicht hinreichend mit dem erkennbaren Ziel bzw. dem äußeren Erscheinungsbild der angezeigten Aktivitäten auseinandergesetzt habe.

Entscheidung des Verfassungs­gerichtshofs

Der VfGH fasste in seiner Entscheidung zunächst seine ständige Rechtsprechung zum Versammlungsbegriff des VersG zusammen. Eine Versammlung ist demnach eine Zusammenkunft mehrerer Menschen, die in der Absicht veranstaltet wird, die Anwesenden zu einem gemeinsamen Wirken (Debatte, Diskussion, Manifestation usw.) zu bringen, sodass eine gewisse Assoziation der Beteiligten entsteht. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, hänge von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab, wobei sich die Beurteilung primär am Zweck der Zusammenkunft und den Elementen der äußeren Erscheinungsformen (nähere Modalitäten, Dauer, Anzahl der Teilnehmer:innen usw.) zu orientieren habe. Dabei verwies der VfGH u.a. auch auf seine jüngere Rechtsprechung, wonach er einer Zusammenkunft mehrerer Menschen den Versammlungscharakter "meist … nicht abgesprochen" habe und etwa auch eine längere Veranstaltungsdauer die Qualifikation von Aktivitäten als Versammlung nicht generell ausschließe (Hinweis auf VfSlg. 20.450/2021 zu einer Zusammenkunft im Festsaal der Technischen Universität Wien; ferner auf VfSlg. 20.275/2018 zu einem mehrmonatigen Protestcamp [„Murcamp“] gegen die Errichtung eines Kraftwerks).

Zum im vorliegenden Fall angezeigten „Klimacamp“ führte der VfGH sodann aus, dass – auch wenn dieses Elemente einer Veranstaltung aufweisen mag – das gemeinsame Wirken der Beteiligten und damit der Versammlungscharakter der angezeigten Aktivitäten bei einer Gesamtbetrachtung überwiegt. Die im Rahmen des „Klimacamps“ geplant gewesenen Workshops, Summer Schools und ähnlichen Aktivitäten dienten weder ausschließlich der Information oder Belehrung der Beteiligten , noch stehe der Unterhaltungs- bzw. Vergnügungscharakter im Vordergrund. Es gehe vielmehr darum, ein kollektives Verhalten in demonstrativem Zusammenwirken zur Verfolgung eines gemeinsamen Zieles – hier: rund um das Thema Klimagerechtigkeit – hervorzurufen. Die angezeigten Aktivitäten und deren Zielsetzung würden damit ein kollektives politisches Wirken darstellen.

Da das VwG – im Anschluss an die LPD – somit den Versammlungscharakter zu Unrecht verneint habe, ohne sich mit den maßgeblichen Gesichtspunkten der angezeigten Aktivitäten umfassend auseinanderzusetzen, sei die Beschwerdeführerin im Grundrecht auf Versammlungsfreiheit verletzt worden. Der VfGH hob die Entscheidungen des VwG daher auf; dieses hat nunmehr im zweiten Rechtsgang erneut über die gegen die Bescheide der LPD erhobenen Beschwerden zu entscheiden.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung.