Dem EGMR zufolge stellten die Verhängung der Untersuchungshaft und die strafrechtliche Verurteilung in Anbetracht ihrer abschreckenden Wirkung unzweifelhaft Eingriffe in das Recht auf freie Meinungsäußerung dar. Diese Eingriffe seien zwar gesetzlich vorgesehen gewesen und hätten ein legitimes Ziel verfolgt, nämlich den Schutz des guten Rufes und der Rechte anderer; sie seien letztlich aber nicht verhältnismäßig gewesen:
Bei der Verurteilung hätten sich die türkischen Gerichte auf jene Bestimmung des Strafgesetzbuchs gestützt, die dem Präsidenten der Republik einen höheren Schutz als anderen Personen gewährt und schwerere Strafen für Ehrenbeleidigungen vorsieht, die sich gegen den Präsidenten richten. Ein solcher erhöhter Schutz sei in der Regel aber nicht mit dem Geist der EMRK vereinbar. Das Interesse eines Staates am Schutz des Ansehens seines Staatsoberhauptes könne nicht als Rechtfertigung dafür dienen, dem Staatsoberhaupt im Hinblick auf das Recht auf Meinungsäußerung eine Privilegierung oder einen besonderen Schutz einzuräumen.
Es sei zwar legitim, die Organe des Staates zu schützen, die die öffentliche Ordnung gewährleisten; Behörden müssten dennoch zurückhaltend bei der Einleitung von Strafverfahren sein. Ob ein Eingriff in die gemäß Art. 10 EMRK geschützten Rechte im Ergebnis verhältnismäßig sei, hänge häufig davon ab, ob die Behörden auf andere Mittel als eine strafrechtliche Sanktion, wie etwa zivilrechtliche Maßnahmen, hätten zurückgreifen können.
Dem EGMR zufolge erfolgte die Verhängung der Untersuchungshaft über Şorli und die Verurteilung zu einer (wenngleich bedingten) Freiheitsstrafe nicht rechtmäßig. Eine solche Sanktion habe zwangsläufig eine abschreckende Wirkung auf Şorlis Bereitschaft gehabt, sich zu Fragen von öffentlichem Interesse zu äußern. In Anbetracht der Verurteilung aufgrund einer Sondervorschrift, die dem Präsidenten der Republik einen verstärkten Schutz vor Beleidigungen gewährt, seien die Eingriffe in das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht in einem angemessenen Verhältnis zu den verfolgten legitimen Zielen gestanden und in einer demokratischen Gesellschaft nicht erforderlich gewesen.
Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung (in englischer Sprache, Download als PDF) und den Volltext der Entscheidung (in französischer Sprache).