Fachinfos - Judikaturauswertungen 05.12.2024

Neues zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts

EuGH 26.9.2024, C 792/22, Energotehnica

Die vorliegende Kammerentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) betrifft den Anwendungsvorrang des Unionsrechts und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf im Zusammenhang mit einer unionsrechtswidrigen Entscheidung eines nationalen Verfassungsgerichts. Demnach ist ein:e nationale:r Richter:in nicht verpflichtet, eine Entscheidung des Verfassungsgerichts ihres bzw. seines Mitgliedstaats (hier: des rumänischen Verfassungsgerichtshofs) anzuwenden, wenn diese dem Unionsrecht entgegensteht. Die bzw. der betreffende Richter:in darf in einem solchen Fall auch nicht disziplinarrechtlich belangt werden.

Sachverhalt

Das der Entscheidung des EuGH zugrundeliegende Vorabentscheidungsersuchen eines rumänischen Berufungsgerichts erging im Rahmen eines gerichtlichen Strafverfahrens. Im Jahr 2017 war ein bei der Gesellschaft Energotehnica beschäftigter Elektriker an einem Stromschlag verstorben. MG, der ebenfalls bei Energotehnica beschäftigt war, war als Vorarbeiter damit betraut gewesen, die Arbeiten zu organisieren, den Mitarbeiter:innen Anweisungen zu erteilen und Maßnahmen im Hinblick auf die Arbeitssicherheit und Schutzausrüstungen zu ergreifen. Nach dem Todesfall wurden zwei Verfahren durchgeführt: Zum einen ein behördliches Untersuchungs- bzw. Strafverfahren gegen Energotehnica durch die Arbeitsinspektion und zum anderen ein gerichtliches Strafverfahren durch die zuständigen Strafgerichte gegen MG wegen Missachtung der gesetzlichen Arbeitssicherheitsmaßnahmen und fahrlässiger Tötung; in letzterem Verfahren traten die Angehörigen des Opfers als Nebenkläger:innen auf.

Ein mit dem Rechtsstreit im Anschluss an das behördliche Verfahren befasstes Verwaltungsgericht stellte fest, dass es sich bei dem Ereignis im vorliegenden Fall nicht um einen Arbeitsunfall gehandelt habe, und hob die von der Arbeitsinspektion gegen Energotehnica verhängten Verwaltungsstrafen auf. Die Nebenkläger:innen wurden im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht angehört, da sich in diesem Verfahren nur Energotehnica und die Arbeitsinspektion gegenübergestanden waren. In der Folge durften die mit dem gerichtlichen Strafverfahren befassten Strafgerichte gemäß den nationalen Rechtsvorschriften – in der Auslegung durch den rumänischen Verfassungsgerichtshof – aufgrund der (rechtskräftigen) verwaltungsgerichtlichen Entscheidung nicht erneut prüfen, ob es sich bei dem Unfall um einen Arbeitsunfall gehandelt habe. Ein Verstoß gegen die Bindungswirkung dieser Entscheidung bzw. der damit geklärten Vorfrage hätte ein Disziplinarvergehen bedeutet.

In diesem Kontext wandte sich das vorlegende Berufungsgericht im Wesentlichen mit der Frage an den EuGH, ob die betreffenden nationalen Rechtsvorschriften – in der Auslegung durch den rumänischen Verfassungsgerichtshof – mit den unionsrechtlichen Vorschriften insbesondere über die Sicherheit und den Schutz von Arbeitnehmer:innen vereinbar seien. Konkret legte das Berufungsgericht dem EuGH gemäß Art. 267 AEUV zwei Fragen betreffend die Auslegung der Art. 1 Abs. 1 und 2 bzw. Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 89/391/EWG über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit sowie der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) vor.

Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union

Der EuGH stellte zunächst – entgegen dem Vorbringen der rumänischen Regierung – klar, dass die vorgelegten Fragen zulässig seien.

In der Sache gelangte der EuGH zu folgendem Ergebnis:

Er stellte zum einen fest, dass die genannten Bestimmungen der Richtlinie 89/391/EWG in Verbindung mit dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz und Art. 47 GRC (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf) einer Rechtslage wie im vorliegenden Fall der rumänischen entgegenstehen. Eine Auslegung durch ein nationales Verfassungsgericht (hier: des rumänischen Verfassungsgerichtshofs), wonach eine rechtskräftige verwaltungsgerichtliche Entscheidung über die Einstufung eines Ereignisses als Arbeitsunfall als Vorfrage Bindungswirkung vor den zuständigen Strafgerichten entfalte, sei mit dem Unionsrecht nicht vereinbar. Dies jedenfalls dann, wenn wie im vorliegenden Fall die Strafgerichte unter anderem auch über die zivilrechtliche Haftung wegen der einer bzw. einem Angeklagten (hier: MG) zur Last gelegten Taten zu entscheiden hätten, die Rechtslage aber den Angehörigen des Opfers des Ereignisses (hier: den Nebenkläger:innen) in keinem der durchgeführten Verfahren rechtliches Gehör – als Element des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf – ermöglichte. Zwar seien für die Festlegung der Verfahren betreffend die Haftung der Arbeitgeberin bzw. des Arbeitsgebers im Falle von Pflichtverletzungen im Hinblick auf die Sicherheit und den Schutz von Arbeitnehmer:innen die Mitgliedstaaten zuständig. Diese Verfahren dürften jedoch nicht die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen (Grund-)Rechte beeinträchtigen.

Zum anderen führte der EuGH aus, dass der Grundsatz des (Anwendungs‑)Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen sei, dass er einer Rechtslage wie im vorliegenden Fall der rumänischen ebenfalls entgegenstehe: Wenn nämlich nationale Gerichte (hier: die zuständigen Strafgerichte) unter Androhung von Disziplinarverfahren gegen ihre Mitglieder eine Entscheidung des nationalen Verfassungsgerichts auch dann nicht von Amts wegen unangewendet lassen dürfen, wenn sie in Anbetracht der Rechtsprechung des EuGH der Auffassung sind, dass diese Entscheidung die den Einzelnen aus dem Unionsrecht (hier: der Richtlinie 89/391/EWG) erwachsenden Rechte verletze, sei dies mit dem Unionsrecht nicht vereinbar. Insoweit bestätigte der EuGH ausdrücklich, dass es einer bzw. einem nationalen Richter:in möglich sein müsse, von der Anwendung einer Entscheidung des Verfassungsgerichts ihres bzw. seines Mitgliedstaats (hier: des rumänischen Verfassungsgerichtshofs) abzusehen, wenn diese dem Unionsrecht entgegensteht. Die bzw. der betreffende Richter:in dürfe daher in einem solchen Fall auch nicht disziplinarrechtlich belangt werden.

Vgl. zu diesem Verfahren die Schlussanträge des Generalanwalts, die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung.