Fachinfos - Judikaturauswertungen 14.10.2021

Nicht-Löschen von Hasspostings von öffentlicher Facebook-Seite

EGMR 2.9.2021, 45581/15, Sanchez gg. Frankreich

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellte fest, dass ein Politiker zulässigerweise zur Zahlung einer Geldstrafe verurteilt wurde, nachdem er es unterlassen hatte, Hasspostings von seiner öffentlichen Facebook-Seite zu löschen. PolitikerInnen müssen in ihren öffentlichen Auftritten darauf achten, nicht Äußerungen zu verbreiten, die geeignet sind, Intoleranz zu provozieren; sie sind im Besonderen gehalten, die Demokratie und ihre Prinzipien zu verteidigen, und zwar insbesondere im Kontext einer Wahl, die von lokalen Spannungen geprägt ist.

Sachverhalt

Julien Sanchez kandidierte im Jahr 2011 auf der Liste des Front National für die französischen Parlamentswahlen. F.P., zu dieser Zeit Mitglied des Europäischen Parlaments und stellvertretender Bürgermeister der Stadt Nîmes, war einer seiner politischen GegnerInnen. Im Oktober 2011 veröffentlichte Sanchez auf seiner öffentlich zugänglichen Facebook-Seite ein Posting über F.P. Zwei Facebook-UserInnen posteten darunter Kommentare, bezeichneten F.P. als großartigen Mann, der Nîmes in Algier verwandelt habe, und behaupteten, dass es keine Straße mehr ohne Kebab-Stand und Moschee gebe, dass dort DrogendealerInnen und Prostituierte regieren würden und dass es kein Wunder sei, dass F.P. Brüssel, die Hauptstadt der neuen Sharia-Weltordnung, gewählt habe. Einer der Kommentare erwähnte L.T., die Partnerin von F.P., die sich durch die Äußerungen angegriffen fühlte und in der Folge Strafanzeige gegen Sanchez und die beiden VerfasserInnen der Kommentare erhob.

Sanchez veröffentlichte am darauffolgenden Tag einen Post auf seiner Facebook-Seite, in dem er die UserInnen aufforderte, auf den Inhalt ihrer Kommentare zu achten. Die bereits geposteten Kommentare, über die sich L.T. beschwerte, löschte er allerdings auf seiner Facebook-Seite nicht.

Das Strafgericht von Nîmes verurteilte Sanchez und die beiden Facebook-UserInnen wegen Anstiftung zum Hass und zur Gewalt aufgrund der Ethnie, Rasse und/oder Religion zu Strafzahlungen. Sanchez, der seine Facebook-Seite aus eigenem für die breite Öffentlichkeit zugänglich gemacht und dort einen Meinungsaustausch ermöglicht habe, sei vorzuwerfen, dass er die Äußerungen auf seiner Facebook-Seite belassen habe; wegen der unterlassenen Löschung sei er wie der/die HaupttäterIn zu behandeln.

Sanchez wandte sich dagegen an das Berufungsgericht und in letzter Folge auch an das Kassationsgericht. Beide bestätigten allerdings die vom Erstgericht vertretene Ansicht. Sanchez erhob schließlich Beschwerde an den EGMR und behauptete, durch die Verurteilung zu einer Strafzahlung aufgrund der Kommentare Dritter auf seiner Facebook-Seite in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) verletzt zu sein.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte

Der EGMR stellte fest, dass die Verurteilung von Sanchez auf einer gesetzlichen Grundlage beruhte und zum Schutz der Ehre und der Rechte anderer erfolgte. In der Folge kam er zu dem Schluss, dass der Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung auch verhältnismäßig war:

Die Kommentare auf der Facebook-Seite von Sanchez seien eindeutig unrechtmäßig gewesen: Sie hätten sich auf eine bestimmte Personengruppe (Musliminnen und Muslime) bezogen und diese mit Straffälligkeit und Unsicherheit in der Stadt Nîmes bzw. mit Begriffen wie „DrogendealerInnen und Prostituierte“ assoziiert, sodass ein Gefühl der Verachtung und der Feindseligkeit provoziert worden sei.

Die Äußerungen seien im Vorfeld einer Wahl erfolgt, d.h. in einem Zeitpunkt, in dem die freie politische Debatte von besonderer Bedeutung sei: Die Freiheit der politischen Debatte sei aber nicht absoluter Natur. Toleranz und die Anerkennung der gleichen Würde aller Menschen seien die Grundlage einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft. Es könne daher grundsätzlich geboten sein, Äußerungen zu sanktionieren, die Hass, der auf Intoleranz gestützt ist, verbreiten, bestärken oder rechtfertigen.

Im konkreten Fall seien die Äußerungen auf einer Facebook-Seite veröffentlicht worden, die frei zugänglich war und im Kontext einer Wahl verwendet wurde, um die breite WählerInnenschaft zu erreichen. Auch wenn Internet-Seiten den Zugang der Öffentlichkeit zu aktuellen Informationen und die Kommunikation generell wesentlich erleichtern würden, so würden sie doch gewisse Risiken bergen, da auch eindeutig unrechtmäßige Äußerungen (wie etwa ehrschädigende, hassverbreitende und zur Gewalt aufrufende Äußerungen) in einer zuvor nicht da gewesenen Einfachheit verbreitet werden könnten.

Der Umstand, dass Sanchez ein gewählter Volksvertreter ist, mildere seine Verantwortung nicht. Im Gegenteil sei es geboten, dass PolitikerInnen in ihren öffentlichen Auftritten darauf achten, keine Äußerungen zu verbreiten, die geeignet sind, Intoleranz zu provozieren. PolitikerInnen seien im Besonderen gehalten, die Demokratie und ihre Prinzipien zu verteidigen, und zwar insbesondere im Kontext einer Wahl, die ohnehin bereits von lokalen Spannungen geprägt ist.

Sanchez habe die Äußerungen zwar einige Tage vor seiner Anhörung von seiner Facebook-Seite gelöscht – dies allerdings erst drei Monate, nachdem sie veröffentlicht worden waren. Dies könne nicht als rechtzeitige Löschung erachtet werden. Auch die Veröffentlichung des Posts von Sanchez, wonach die UserInnen auf den Inhalt ihrer Kommentare achten sollten, ändere nichts. Dem EGMR zufolge bestehe eine gemeinsame Verantwortung der BetreiberInnen einer Facebook-Seite und der NutzerInnen.

BetreiberInnen einer Facebook-Seite haben dem EGMR zufolge besondere Pflichten, und zwar umso mehr, wenn sie nicht von der Möglichkeit Gebrauch machen, den Zugriff auf ihre Seiten zu beschränken, sondern sie der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung stellen.

Schließlich sei der Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung auch wegen der Höhe der Strafzahlung (3.000 Euro) nicht unverhältnismäßig gewesen. Der EGMR kam daher zum Ergebnis, dass Sanchez nicht in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) verletzt wurde.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung (in englischer Sprache) und den Volltext der Entscheidung (in französischer Sprache).