Der polnische Verfassungsgerichtshof erkannte in seinem Urteil vom 7. Oktober 2021 grundsätzlich an, dass das Unionsrecht unmittelbar in den Mitgliedstaaten angewendet werden kann. Zugleich entschied er aber, dass der damit verbundene Anwendungsvorrang des Unionsrechts nur für diejenigen Rechtsakte gelten kann, die innerhalb jener Kompetenzen gesetzt wurden, die der EU von den Mitgliedstaaten übertragen worden sind. Nach Auffassung des polnischen Verfassungsgerichtshofes zählen die Funktionsweise und die Organisationsstruktur des Justizwesens eines Mitgliedstaats nicht zu jenen Kompetenzen, die an die EU übertragen worden sind. Sie seien Teil der nationalen Verfassungsidentität und die EU dürfe nicht in sie eingreifen.
Auf dem Staatsgebiet Polens habe die Verfassung Polens Vorrang gegenüber allen anderen Normen einschließlich jener des Unionsrechts. EU-Organe würden neue Zuständigkeiten der EU schaffen, wenn sie sich anmaßten, die Funktionsweise des polnischen Justizsystems zu beurteilen.
Wenn der EuGH aus Art. 19 Abs. 1 EUV ableite, dass dieser nicht nur die Gerichtsbarkeit der EU, sondern auch mittelbar jene der Mitgliedstaaten regle, dann maße er sich Kompetenzen an, die für ihn nicht in den Verträgen vorgesehen seien. Zudem verstießen die zentralen Normen über die Grundwerte der Union, mit denen der EuGH seine Entscheidungen zum polnischen Justizsystem begründet hatte, gegen die polnische Verfassung. Dieser Konflikt zwischen der EU und Polen könne nur dadurch gelöst werden, dass Polen seine Verfassung ändere, das Unionsrecht geändert werde, oder Polen aus der EU austrete.
Vgl. zu diesem Verfahren die Veröffentlichung des Urteilstenors im Amtsblatt der Republik Polen und die englische Pressemitteilung des polnischen Verfassungsgerichtshofs.