Der EGMR hob eingangs hervor, dass Tőkés durch das Anbringen der Flaggen ausdrücken wollte, Teil einer nationalen Minderheit zu sein. Demnach seien die Verwarnungen durch die Polizei als Eingriffe in sein Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 10 EMRK zu qualifizieren. Diese Eingriffe seien aufgrund einer gesetzlichen Grundlage erfolgt, wobei das rumänische Gesetz, welches das Anbringen von Werbeflaggen an Gebäuden einer Vorabgenehmigung unterwirft, recht vage formuliert sei und den staatlichen Behörden daher einen weiten Ermessenspielraum einräume. Die Eingriffe hätten zudem einen legitimen Zweck verfolgt, nämlich den Schutz der Rechte anderer.
Der EGMR prüfte in der Folge, ob die Eingriffe in das Recht auf freie Meinungsäußerung verhältnismäßig waren. In diesem Zusammenhang hob der EGMR hervor, dass die rumänischen Gerichte es verabsäumt haben, den Kontext der Beschwerden von Tőkés angemessen zu berücksichtigen, und zwar auch sein Vorbringen, dass die Verwarnungen der Polizei Eingriffe in sein Recht auf freie Meinungsäußerung darstellten. Zudem seien die Flaggen, die Tőkés angebracht hatte, von den Gerichten als Werbeflaggen qualifiziert worden, obwohl dieser argumentiert hatte, sie nicht angebracht zu haben, um seine Aktivitäten zu bewerben, sondern vielmehr, um seine eigene Identität zum Ausdruck zu bringen.
Dem EGMR zufolge ist – auch vor dem Hintergrund seiner bisherigen Rechtsprechung – zwischen kommerzieller und politischer Werbung, die zu einer öffentlichen Debatte von allgemeinem Interesse beitragen soll, zu differenzieren. Im vorliegenden Fall hätten die rumänischen Gerichte weder den Inhalt der Meinungsäußerung bewertet noch hätten sie erwähnt, für welche Aktivitäten oder Veranstaltungen die Flaggen behauptetermaßen als Werbung dienen sollten. Unberücksichtigt geblieben seien zudem der Status von Tőkés als Mitglied des Europäischen Parlaments und die ihm daraus erfließenden Rechte: Es sei in keiner Weise beurteilt worden, ob Tőkés beim Anbringen der Flaggen in seiner Funktion als Politiker oder als gewöhnlicher Bürger gehandelt habe; ebenso unerwähnt geblieben sei, dass er im Zeitpunkt der Handlungen ein in Ungarn gewähltes Mitglied des Europäischen Parlaments war. All dies sei jedoch bei der Beurteilung der Art der Meinungsäußerung miteinzubeziehen gewesen.
Die rumänischen Gerichten hätten zudem nicht ausreichend begründet, aus welchem Grund nur das Anbringen der Flagge des Partium, nicht aber das Anbringen der rumänischen und der ungarischen Flagge bzw. der Flagge der Europäischen Union direkt daneben vorab bewilligt werden musste. Tőkés sei zudem bis Februar 2020 nicht dazu aufgefordert worden, die Flaggen abzunehmen.
Der EGMR kam daher zum Ergebnis, dass die Eingriffe in das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht verhältnismäßig waren, sodass in beiden Fällen eine Verletzung von Art. 10 EMRK vorlag.
Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung (in englischer Sprache) und den Volltext der Entscheidung (in französischer Sprache).