Fachinfos - Judikaturauswertungen 08.07.2021

Rumänien: Polizeiliche Verwarnung wegen Flaggen

Verwarnung infolge des Anbringens von Flaggen an Bürogebäude verletzte Mitglied des Europäischen Parlaments im Recht auf freie Meinungsäußerung. EGMR 27.4.2021, 15976/16 und 50461/17, Tőkés gg. Rumänien (8. Juli 2021)

Sachverhalt

László Tőkés ist rumänischer Staatsangehöriger und Teil der dortigen ungarischen Minderheit. Im Jahr 2009 wurde er über die Liste der Demokratischen Union der Ungarn in Rumänien zum Mitglied des Europäischen Parlaments gewählt und im Jahr 2014 über die ungarische FIDESZ-Liste wiedergewählt.

Tőkés brachte in den Jahren 2014 und 2015 am Gebäude seines Büros in Oradea (Rumänien) Flaggen an – die Flagge des Szeklerlandes, eines rumänischen Gebiets mit vorwiegend ungarischsprachiger Bevölkerung, und jene des Partium, eines historisch ungarischen Gebiets, das im 16. Jahrhundert unter die Hoheit der siebenbürgischen Fürsten gekommen war. Letztere brachte er neben anderen Flaggen an, nämlich neben der rumänischen und der ungarischen Nationalflagge sowie der Flagge der Europäischen Union.

Die Polizei verwarnte Tőkés in der Folge, weil er Werbefahnen angebracht habe, ohne vorab die erforderliche Genehmigung erhalten zu haben, und ordnete an, dass die Flaggen des Szeklerlandes und des Partium entfernt werden müssen. Tőkés wandte sich dagegen an das zuständige Gericht und behauptete unter anderem, dass diese Flaggen historische Symbole seien, die von den ungarischsprachigen BewohnerInnen als Teil ihrer Identität wahrgenommen werden und zum kulturellen Erbe der Region gehören. Außerdem brachte er vor, dass die Verwarnungen ohne gesetzliche Grundlage erfolgt seien, da die Flaggen nicht zu Werbezwecken angebracht worden seien. Die Gerichte wiesen die Beschwerden jedoch ab und gingen davon aus, dass Tőkés die Flaggen als Werbematerial angebracht habe, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf Aktivitäten und Veranstaltungen zu richten.

Tőkés wandte sich daher an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und behauptete, durch die Verwarnungen der Polizei in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) verletzt worden zu sein. Im Februar 2020, d.h. mehr als fünf Jahre nach den Verwarnungen durch die Polizei, entfernte Tőkés nach einer Polizeikontrolle selbst die Flaggen ohne behördlichen Zwang.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Der EGMR hob eingangs hervor, dass Tőkés durch das Anbringen der Flaggen ausdrücken wollte, Teil einer nationalen Minderheit zu sein. Demnach seien die Verwarnungen durch die Polizei als Eingriffe in sein Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 10 EMRK zu qualifizieren. Diese Eingriffe seien aufgrund einer gesetzlichen Grundlage erfolgt, wobei das rumänische Gesetz, welches das Anbringen von Werbeflaggen an Gebäuden einer Vorabgenehmigung unterwirft, recht vage formuliert sei und den staatlichen Behörden daher einen weiten Ermessenspielraum einräume. Die Eingriffe hätten zudem einen legitimen Zweck verfolgt, nämlich den Schutz der Rechte anderer.

Der EGMR prüfte in der Folge, ob die Eingriffe in das Recht auf freie Meinungsäußerung verhältnismäßig waren. In diesem Zusammenhang hob der EGMR hervor, dass die rumänischen Gerichte es verabsäumt haben, den Kontext der Beschwerden von Tőkés angemessen zu berücksichtigen, und zwar auch sein Vorbringen, dass die Verwarnungen der Polizei Eingriffe in sein Recht auf freie Meinungsäußerung darstellten. Zudem seien die Flaggen, die Tőkés angebracht hatte, von den Gerichten als Werbeflaggen qualifiziert worden, obwohl dieser argumentiert hatte, sie nicht angebracht zu haben, um seine Aktivitäten zu bewerben, sondern vielmehr, um seine eigene Identität zum Ausdruck zu bringen.

Dem EGMR zufolge ist – auch vor dem Hintergrund seiner bisherigen Rechtsprechung – zwischen kommerzieller und politischer Werbung, die zu einer öffentlichen Debatte von allgemeinem Interesse beitragen soll, zu differenzieren. Im vorliegenden Fall hätten die rumänischen Gerichte weder den Inhalt der Meinungsäußerung bewertet noch hätten sie erwähnt, für welche Aktivitäten oder Veranstaltungen die Flaggen behauptetermaßen als Werbung dienen sollten. Unberücksichtigt geblieben seien zudem der Status von Tőkés als Mitglied des Europäischen Parlaments und die ihm daraus erfließenden Rechte: Es sei in keiner Weise beurteilt worden, ob Tőkés beim Anbringen der Flaggen in seiner Funktion als Politiker oder als gewöhnlicher Bürger gehandelt habe; ebenso unerwähnt geblieben sei, dass er im Zeitpunkt der Handlungen ein in Ungarn gewähltes Mitglied des Europäischen Parlaments war. All dies sei jedoch bei der Beurteilung der Art der Meinungsäußerung miteinzubeziehen gewesen.

Die rumänischen Gerichten hätten zudem nicht ausreichend begründet, aus welchem Grund nur das Anbringen der Flagge des Partium, nicht aber das Anbringen der rumänischen und der ungarischen Flagge bzw. der Flagge der Europäischen Union direkt daneben vorab bewilligt werden musste. Tőkés sei zudem bis Februar 2020 nicht dazu aufgefordert worden, die Flaggen abzunehmen.

Der EGMR kam daher zum Ergebnis, dass die Eingriffe in das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht verhältnismäßig waren, sodass in beiden Fällen eine Verletzung von Art. 10 EMRK vorlag.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung (in englischer Sprache) und den Volltext der Entscheidung (in französischer Sprache).