Fachinfos - Judikaturauswertungen 10.10.2019

Strafverfahren wegen Äußerungen zu PKK-Chef

Sachverhalt

Der Beschwerdeführer Selahattin Demirtaş ist ein türkischer Politiker, der unter anderem bei der türkischen Präsidentschaftswahl 2014 als Kandidat der Demokratischen Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi; HDP) angetreten ist. Im Juli 2005 wurde ein Telefonat des Beschwerdeführers über einen Fernsehsender übertragen, der bekanntlich Verbindungen zur – unter anderem von der Türkei und der Europäischen Union als terroristische Organisation eingestuften – Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê; PKK) hat. In diesem Telefonat äußerte sich der Beschwerdeführer in seiner Rolle als Präsident des Menschenrechtsvereins (İnsan Hakları Derneği; İHD) und Sprecher der Diyarbakır Democratic Platform zur Inhaftierung Abdullah Öcalans und zur Kurdenfrage in der Türkei. Dabei betonte er die mögliche Schlüsselrolle Öcalans bei der Findung einer friedlichen Lösung und forderte in diesem Zusammenhang eine Verbesserung seiner Haftbedingungen.

Im Dezember 2005 wurde Demirtaş aufgrund seiner telefonischen Äußerungen wegen Verbreitung von Propaganda zugunsten einer terroristischen Organisation angeklagt und im September 2010 zu zehn Monaten Haft verurteilt. Seine Äußerungen seien vom Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 10 EMRK nicht gedeckt. Stattdessen seien sie als Propaganda zugunsten der terroristischen Organisation PKK bzw. Volkskongress Kurdistan (Kongra Gelê Kurdistan; Kongra-Gel) zu verstehen und würden sowohl ihre Mitglieder als auch ihren Anführer Abdullah Öcalan verteidigen. Das zuständige Gericht setzte die Verkündung des Urteils für einen Zeitraum von fünf Jahren aus, wogegen der Beschwerdeführer im Dezember 2010 erfolglos Einspruch erhob. Im Juli 2013 hob das zuständige Gericht sein Urteil von September 2010 auf und beschloss, das Verfahren gegen den Beschwerdeführer für einen Zeitraum von drei Jahren auszusetzen.

Im Dezember 2010 erhob Demirtaş Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit der Behauptung, das gegenständliche Strafverfahren verletze ihn in seinen Rechten auf Gedankenfreiheit gemäß Art. 9 EMRK und auf Meinungsäußerungsfreiheit gemäß Art. 10 EMRK.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte

Der EGMR beschränkte seine Prüfung auf die Frage, ob der Beschwerdeführer in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 10 EMRK verletzt wurde. Dabei prüfte er in einem ersten Schritt, ob es einen Eingriff in das Grundrecht des Beschwerdeführers gab. Diese Frage bejahte er mit Blick auf die mögliche abschreckende Wirkung des Strafverfahrens und der in diesem Rahmen ergangenen Beschlüsse für den Beschwerdeführer. Diese hätten für ihn nicht nur hypothetische Risiken mit sich gebracht, sondern tatsächliche und wirksame Einschränkungen: Durch die Verfahrensaussetzungen von fünf bzw. drei Jahren habe sich der Beschwerdeführer während dieser Zeiträume nicht sicher sein können, ob er bei Äußerungen zu ähnlichen Fragen strafrechtlich verfolgt werden würde.

In einem zweiten Schritt prüfte der EGMR, ob der Grundrechtseingriff gerechtfertigt war. Dies verneinte er: Zwar habe der Eingriff auf einer gesetzlichen Grundlage beruht und mehreren in Art. 10 Abs. 2 EMRK aufgezählten Zielen gedient, nämlich dem Interesse der nationalen und der öffentlichen Sicherheit sowie der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung.

Allerdings sei der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig gewesen und habe daher den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht verletzt. Der EGMR erinnerte daran, dass Art. 10 Abs. 2 EMRK einen sehr engen Beurteilungsspielraum für Einschränkungen politischer Äußerungen oder Diskussionen in Angelegenheiten des öffentlichen Interesses eröffnet. Die Mitgliedstaaten dürften das Recht der Öffentlichkeit, über solche Äußerungen informiert zu werden, grundsätzlich nicht einschränken – auch nicht mit Blick auf die in Art. 10 Abs. 2 EMRK aufgezählten Ziele, nämlich den Schutz der territorialen Unversehrtheit, der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung oder der Verbrechensverhütung. Einschränkungen seien nur ausnahmsweise zulässig, wenn die betreffenden Äußerungen zu Gewalt anspornen.

Im vorliegenden Fall habe der Beschwerdeführer Demirtaş seine Ideen und Meinungen zu einer Frage geäußert, die in einer demokratischen Gesellschaft zweifellos von öffentlichem Interesse sei: Er habe die Behörden und die Öffentlichkeit angerufen, die mögliche Rolle des inhaftierten PKK-Chefs bei der Findung einer friedlichen Lösung der Kurdenfrage zu berücksichtigen und folglich dessen Haftbedingungen zu verbessern, damit er diese Rolle einnehmen kann. Der EGMR sah in den Äußerungen des Beschwerdeführers weder einen Aufruf zu Gewalt, bewaffnetem Widerstand oder Aufstand, noch beurteilte er sie als Hassrede.

Vor diesem Hintergrund folgerte der EGMR, dass die angefochtene Maßnahme keinem dringenden sozialen Bedürfnis entsprach, gegenüber den verfolgten berechtigten Zielen nicht verhältnismäßig und daher in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig war.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung (in englischer Sprache) und den Volltext der Entscheidung (in französischer Sprache).