Fachinfos - Judikaturauswertungen 06.10.2020

Tweet war nicht von der Immunität geschützt

Tweet einer Abgeordneten zum Europäischen Parlament war nicht von der Immunität geschützt. EuGH 17.9.2020, C-12/19 P, Troszczynski gg. Parlament (6. Oktober 2020)

Sachverhalt

Auf dem Twitter-Konto der Abgeordneten zum Europäischen Parlament (EP) Mylène Troszczynski wurde im September 2015 ein Foto veröffentlicht, auf dem eine Gruppe von Frauen zu sehen war, die ein Kleidungsstück trugen, das ihr gesamtes Gesicht mit Ausnahme der Augen verdeckte, und die vor einer Filiale der „CAF“-Familienkasse (= jener Kasse, die in Frankreich für finanzielle Unterstützungen für Familien zuständig ist) zu warten schienen. Das Foto war mit folgendem Kommentar versehen: „CAF in Rosny-sous-Bois am 9. Dezember 2014. Die Vollverschleierung gilt als gesetzlich verboten …“.

Nachdem der Generaldirektor der CAF von Seine-Saint-Denis im November 2015 eine Beschwerde gegen Troszczynski wegen öffentlicher Verleumdung einer Behörde eingereicht hatte, eröffnete der Staatsanwalt von Bobigny im Jänner 2016 eine gerichtliche Voruntersuchung wegen Aufstachelung zu Hass und Gewalt gegen eine Person oder eine Gruppe von Personen aus Gründen von deren Herkunft oder Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe, Nation, Rasse oder Religion sowie wegen öffentlicher Verleumdung.

Troszczynski wurde im September 2016 zu einer Einvernahme geladen. Sie weigerte sich, dieser Ladung nachzukommen, und begründete dies mit ihrer parlamentarischen Immunität. Der Ermittlungsrichter beantragte daher beim EP die Aufhebung ihrer Immunität. Daraufhin wurde Troszczynski im April 2017 vom Rechtsausschuss des EP angehört. Am 14. Juni 2017 hob das EP mit Beschluss ihre Immunität auf.

Dagegen erhob Troszczynski im August 2017 Klage auf Nichtigerklärung beim Gericht der Europäischen Union (EuG). Das EuG wies die Klage am 8. November 2018 ab, da es der Ansicht war, der Tweet falle nicht unter die Ausübung des parlamentarischen Amtes im Sinne von Art. 8 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union (in der Folge: Protokoll). Gegen dieses Urteil brachte Troszczynski ein Rechtsmittel beim Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) ein und beantragte unter anderem, das Urteil des EuG aufzuheben und den Beschluss des EP für nichtig zu erklären. Dies begründete sie insbesondere damit, dass das EuG den Tweet als Meinungsäußerung in Ausübung ihres parlamentarischen Amtes ansehen hätte müssen.

Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union

Der EuGH wies das Rechtsmittel zurück. Er legte zunächst dar, dass Art. 8 des Protokolls eine Sondervorschrift ist, die die freie Meinungsäußerung und die Unabhängigkeit der EP-Abgeordneten schützen soll. Sie stehe daher jedem Gerichtsverfahren wegen in Ausübung des Abgeordnetenamts erfolgter Äußerungen und Abstimmungen entgegen. Art. 8 des Protokolls finde zunächst jedenfalls auf die Erklärungen der Abgeordneten Anwendung, die diese im EP selbst abgeben. Dennoch sei es möglich, dass auch eine Erklärung, die ein/e Abgeordnete/r außerhalb des EP abgibt, eine in Ausübung seines/ihres Amtes erfolgte Meinungsäußerung darstellt. Denn das Vorliegen einer derartigen Äußerung hänge nicht vom Ort ab, an dem sie erfolgt, sondern von ihrer Art und ihrem Inhalt.

Der Zusammenhang zwischen der Äußerung des/der Abgeordneten und seinem/ihrem parlamentarischen Amt müsse jedoch unmittelbar und in offenkundiger Weise ersichtlich sein. Denn die parlamentarische Immunität hindere die nationalen Justizbehörden und Gerichte in endgültiger Weise daran, ihre Befugnisse zur Strafverfolgung und zur Ahndung von Straftaten in ihrem Hoheitsgebiet auszuüben. Dadurch könnte auch Personen, die durch die Äußerungen geschädigt wurden, der Zugang zu den Gerichten – und damit zu Schadenersatz – vollständig verwehrt werden.

Der EuGH hielt auch fest, dass der Umfang der in Art. 8 des Protokolls vorgesehenen Immunität sich allein nach dem Unionsrecht bestimmt, da diese Vorschrift keinerlei Verweis auf die nationalen Rechtsordnungen enthält.

Anders als von Troszczynski behauptet, habe das EuG nicht ausgesprochen, dass das im Tweet kommentierte Ereignis für EP-Abgeordnete nicht von Bedeutung sei, da es in Frankreich stattgefunden habe. Ebenso wenig habe das EuG ausgeschlossen, dass Ereignisse, die mit Problemstellungen im Zusammenhang mit dem Islamismus und mit der Verletzung der Rechte der Frauen verbunden sein könnten, von allgemeinem Interesse sein könnten.

Das EuG habe lediglich festgestellt, dass der Tweet einer allgemeineren Stellungnahme zu aktuellen oder vom EP gewöhnlich behandelten Themen nicht gleichgesetzt werden könne. Er bringe nämlich eher den Willen zum Ausdruck, auf ein mit dem französischen Recht unvereinbares Verhalten hinzuweisen, als das Anliegen, die Rechte der Frauen zu verteidigen. Folglich könne auch durch den Umstand, dass Troszczynski stellvertretendes Mitglied des Ausschusses für die Rechte der Frau und Chancengleichheit des EP ist, kein Zusammenhang zwischen dem Tweet und dem von ihr als Abgeordnete ausgeübten Amt hergestellt werden.

Zudem habe das EuG den Begriff „Äußerung“ im Sinne von Art. 8 des Protokolls nicht unzulässig beschränkt, sondern lediglich festgestellt, dass zwischen dem Tweet und dem parlamentarischen Amt von Troszczynski kein unmittelbarer und offenkundiger Zusammenhang vorliege.

Das EP habe im streitigen Beschluss zwar eingeräumt, dass Troszczynski nicht die Urheberin des streitigen Tweets gewesen sei und dass sie diesen gelöscht habe, sobald sie von ihm Kenntnis erlangt habe. Mit dieser Feststellung sei jedoch nicht ihre Verantwortlichkeit für die etwaige Nutzung ihres Twitter-Kontos durch ihren Assistenten beurteilt worden. Denn dies könnte zur Folge haben, dass das EP die Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität ablehnt. Das EuG habe aber rechtsfehlerfrei entschieden, dass sich dieser Umstand nicht auf die Rechtmäßigkeit des streitigen Beschlusses auswirkt.

Vgl. zu diesem Verfahren den Volltext der Entscheidung.