Der EGMR hob einleitend hervor, dass der Justizminister seinen Vorschlag, Kövesi frühzeitig zu entlassen, zum größten Teil auf Meinungsäußerungen stützte, die Kövesi in Ausübung ihrer beruflichen Funktion öffentlich getätigt hatte. Es bestehe daher der Anschein, dass zwischen der Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung und ihrer frühzeitigen Entlassung ein Zusammenhang gegeben ist. Demnach liege im konkreten Fall ein Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 10 EMRK vor.
Dieser Eingriff sei zwar auf Basis einer gesetzlichen Grundlage erfolgt, allerdings nicht mit Blick auf ein legitimes Ziel: Das Argument der rumänischen Regierung, dass die frühzeitige Entlassung Kövesis dem Schutz der Rechtsstaatlichkeit oder einem anderen legitimen Ziel gedient hätte, bewertete der EGMR als unzureichend. Obwohl schon mangels legitimen Ziels des Eingriffs eine Verletzung von Art. 10 EMRK vorlag, entschied der EGMR im konkreten Fall, auch die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs zu prüfen.
In diesem Zusammenhang betonte der EGMR erneut, dass öffentlich Bedienstete im Bereich der Gerichtsbarkeit ihr Recht auf freie Meinungsäußerung in Fällen, in denen die Autorität oder Unbefangenheit der Justiz in Frage gestellt werden könnte, grundsätzlich mit Bedacht auszuüben haben. Die Organe der Gerichtsbarkeit haben – in ihrer Funktion als Garant/inn/en der Gerechtigkeit – nämlich eine besondere Rolle in der Gesellschaft: Sie müssen als solche das Vertrauen der Öffentlichkeit genießen, um ihre Aufgaben erfolgreich erfüllen zu können. Zugleich aber fallen Fragen über die Funktionsweise des Justizsystems in das öffentliche Interesse, sodass die Auseinandersetzung damit in der Öffentlichkeit im Lichte des Art. 10 EMRK einen erhöhten Schutz erfährt. Der Umstand allein, dass eine in der Öffentlichkeit diskutierte Angelegenheit politische Implikationen hat, könne eine/n Richter/in nicht davon abhalten, seine/ihre Meinung dazu kundzutun. In einem demokratischen System müssten die Handlungen und Unterlassungen der Regierung nicht nur von Seiten der Gesetzgebung und der Gerichtsbarkeit kontrolliert werden, sondern auch von Seiten der Medien und der Öffentlichkeit.
Im konkreten Fall habe Kövesi ihre Ansichten über Gesetzesreformen in ihrer beruflichen Funktion als Leiterin der obersten Korruptionsbekämpfungsbehörde zum Ausdruck gebracht. Sie habe überdies Untersuchungen gegen Regierungsmitglieder einleiten lassen, um herauszufinden, ob sich gegen diese der Verdacht der Korruption in Zusammenhang mit den genannten Gesetzesreformen erhärten würde. Schließlich habe sie die Öffentlichkeit über die Einleitung dieser Untersuchungen informiert und ihre Ansichten auch in den Medien oder im Rahmen von beruflichen Treffen geäußert.
Der EGMR hob hervor, dass Kövesi – in ihrer Funktion als Leiterin der Korruptionsbekämpfungsbehörde – die Pflicht hatte, ihre Ansicht zu Gesetzesreformen zu äußern, die die Justiz und deren Unabhängigkeit sowie die Korruptionsbekämpfung durch ihre Behörde beeinflussen könnten. Ihre Äußerungen seien aus einer rein beruflichen Sicht nicht über bloße Kritik hinausgegangen, sodass sie im Lichte des Art. 10 EMRK eines erhöhten Schutzes bedurften und jeder Eingriff besonders streng geprüft werden müsse.
Der EGMR kam daher zum Schluss, dass Kövesis frühzeitige Entlassung der Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit der Justiz zuwiderlief. Zudem sei die Sanktion besonders schwer gewesen und habe als solche abschreckende Wirkung gehabt, weil sie im Ergebnis wohl nicht nur Kövesi, sondern auch andere Staatsanwälte/Staatsanwältinnen und Richter/innen davon abhielt, in weiterer Folge in der öffentlichen Debatte über Gesetzesreformen und ganz generell über Fragen zur Unabhängigkeit der Justiz Stellung zu beziehen.
Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung (jeweils in englischer Sprache).