Fachinfos - Judikaturauswertungen 08.07.2020

Unrechtmäßige frühzeitige Entlassung

Unrechtmäßige frühzeitige Entlassung der Leiterin der obersten rumänischen Korruptionsbekämpfungsbehörde. EGMR 5.5.2020, 3594/19, Kövesi gg. Rumänien (8. Juli 2020)

Sachverhalt

Laura-Codruța Kövesi wurde im Mai 2013 erstmals für drei Jahre zur Leiterin der obersten rumänischen Korruptionsbekämpfungsbehörde (Direcția Națională Anticorupție) ernannt. In dieser Funktion war sie mit Führungsaufgaben und mit der Gesamtkoordination der Tätigkeiten der Behörde betraut. Da Kövesi ihre Funktion zur vollen Zufriedenheit des damaligen Justizministers und der Fachaufsichtsbehörde ausübte, wurde sie im April 2016 für eine zweite Amtsperiode bis Mai 2019 wiederernannt.

Die Wahlen zum rumänischen Parlament im Dezember 2016 führten zur Bildung einer neuen Regierung und damit auch zu einem Wechsel im Amt des Justizministers. Die neue Regierung trieb umfassende Gesetzesreformen im Bereich der Justiz voran – darunter etwa auch eine Lockerung der Anti-Korruptionsgesetze, mit der für Gesetzeskauf eine weniger strenge Sanktion bzw. teils sogar Straffreiheit vorgesehen wurde. Diese Reform führte zu Demonstrationen in Rumänien und internationalen Protesten. Die Behörde unter Kövesis Leitung initiierte Untersuchungen über die Begleitumstände der Umsetzung des Gesetzesvorhabens. Nahezu 4.000 Richter/innen und Staatsanwälte/Staatsanwältinnen unterzeichneten ein Memorandum zur Rückgängigmachung der Reform.

Im Februar 2018 schlug der (neue) Justizminister in einem Bericht an die Fachaufsichtsbehörde die Entlassung Kövesis vor. Er begründete dies unter anderem mit zwei Entscheidungen des rumänischen Verfassungsgerichts, wonach die Tätigkeit der obersten Korruptionsbekämpfungsbehörde gegen die Verfassung verstoßen hatte. Zudem hätte Kövesi mehrmals öffentlich Äußerungen getätigt, die belegen würden, dass sie die Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Höchstentscheidungen anzweifeln und sich über die Autorität des Parlaments sowie der Regierung hinwegsetzen würde.

Der Vorschlag des Justizministers auf Entlassung wurde von der Fachaufsichtsbehörde aber nicht unterstützt, weil die Kritik an Kövesi unbegründet sei. Die verfassungsgerichtlichen Entscheidungen, die eine Verletzung der Verfassung durch die oberste Korruptionsbekämpfungsbehörde festgestellt hatten, dürften nicht zu Lasten Kövesis gewertet werden, weil ihnen keine rückwirkende Kraft zukam, sondern sie nur pro futuro wirkten. Die öffentlichen Äußerungen dürften nicht so verstanden werden, dass sie die Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Höchstentscheidungen in Frage stellten. Darüber hinaus gebe es auch keine Anhaltspunkte dafür, dass Kövesi ihren Führungsaufgaben nicht ausreichend nachkommen würde. Auf Basis der Einschätzung der Fachaufsichtsbehörde weigerte sich der rumänische Staatspräsident im April 2018, das Dekret zur Entlassung Kövesis zu unterzeichnen. Diese Weigerung bekämpfte der rumänische Premierminister vor dem rumänischen Verfassungsgericht.

Das Verfassungsgericht entschied im Mai 2018, dass der Staatspräsident verpflichtet ist, das Entlassungsdekret zu unterzeichnen: Weder der Staatspräsident noch das Verfassungsgericht seien befugt, die Gründe zu überprüfen, die der Justizminister in seinem Vorschlag angeführt hatte. Auch die Verwaltungsgerichte seien auf eine formelle Prüfung des Entlassungsverfahrens beschränkt, d.h. sie dürften bloß überprüfen, ob das Verfahren zur Erlassung des Entlassungsdekrets eingehalten wurde, nicht jedoch, ob die Entlassung inhaltlich rechtmäßig erfolgte. Kövesi wurde daher im Juli 2018 frühzeitig aus ihrer Funktion entlassen.

Kövesi wandte sich dagegen an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR): Sie behauptete, mangels einer Möglichkeit zur (inhaltlichen) Bekämpfung ihrer frühzeitigen Entlassung in ihrem Recht auf ein faires Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 EMRK) verletzt worden zu sein. Zudem argumentierte sie, dass sie nur aufgrund von öffentlichen Äußerungen entlassen worden sei, die sie in ihrer beruflichen Funktion über die Justizreformen getätigt hatte: Im Ergebnis sei sie daher auch in ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) verletzt worden.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK)

Der EGMR erklärte eingangs, dass Rechtsstreitigkeiten zwischen öffentlich Bediensteten und dem Staat grundsätzlich in den Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK fallen, sofern der Zugang zu einem Gericht nicht ausdrücklich gesetzlich ausgeschlossen und dieser Ausschluss aus objektiven Gründen im Interesse des Staates gelegen ist. Im konkreten Fall sei der Zugang zu einem Gericht nicht ausgeschlossen gewesen: Kövesi hätte nämlich grundsätzlich die Möglichkeit gehabt, ihre Entlassung beim zuständigen rumänischen Verwaltungsgericht zu bekämpfen. Ein Ausschluss eines solchen Rechtsmittels hätte darüber hinaus auch nicht aus objektiven Gründen im Interesse des Staates liegen können: Öffentlich Bedienstete im Bereich der Gerichtsbarkeit seien nämlich nur dann vor Willkür der Exekutive geschützt, wenn ein unabhängiges Gericht über ihre Entlassung befinden kann.

Das Argument der rumänischen Regierung, wonach Kövesi es unterlassen habe, den Bericht des Justizministers mit dem Vorschlag ihrer Entlassung vor einem Verwaltungsgericht zu bekämpfen, sodass sie die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht völlig ausgeschöpft habe, erachtete der EGMR für unzutreffend: Das rumänische Verfassungsgericht habe in seiner Entscheidung klar zum Ausdruck gebracht, dass der Bericht des Justizministers, mit dem dieser die Entlassung vorgeschlagen hatte, gerade nur ein erster Schritt auf dem Weg zur Entlassung Kövesis gewesen sei, der per se keine Rechtswirkungen entfaltete. Zudem hätten mehrere NGOs erfolglos versucht, den Bericht zu bekämpfen.

Darüber hinaus hob der EGMR hervor, dass das rumänische Verfassungsgericht den Verwaltungsgerichten in der konkreten Entscheidung bloß die Befugnis zugesprochen hatte, das Verfahren zur Erlassung des Entlassungsdekrets zu prüfen, nicht jedoch die inhaltliche Begründetheit der Entlassung. Der EGMR kam daher zum Schluss, dass Kövesi die Gründe für ihre Entlassung – infolge der verfassungsgerichtlichen Entscheidung – nicht hinreichend effektiv bekämpfen konnte und sie folglich in ihrem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) verletzt wurde.

Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK)

Der EGMR hob einleitend hervor, dass der Justizminister seinen Vorschlag, Kövesi frühzeitig zu entlassen, zum größten Teil auf Meinungsäußerungen stützte, die Kövesi in Ausübung ihrer beruflichen Funktion öffentlich getätigt hatte. Es bestehe daher der Anschein, dass zwischen der Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung und ihrer frühzeitigen Entlassung ein Zusammenhang gegeben ist. Demnach liege im konkreten Fall ein Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 10 EMRK vor.

Dieser Eingriff sei zwar auf Basis einer gesetzlichen Grundlage erfolgt, allerdings nicht mit Blick auf ein legitimes Ziel: Das Argument der rumänischen Regierung, dass die frühzeitige Entlassung Kövesis dem Schutz der Rechtsstaatlichkeit oder einem anderen legitimen Ziel gedient hätte, bewertete der EGMR als unzureichend. Obwohl schon mangels legitimen Ziels des Eingriffs eine Verletzung von Art. 10 EMRK vorlag, entschied der EGMR im konkreten Fall, auch die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs zu prüfen.

In diesem Zusammenhang betonte der EGMR erneut, dass öffentlich Bedienstete im Bereich der Gerichtsbarkeit ihr Recht auf freie Meinungsäußerung in Fällen, in denen die Autorität oder Unbefangenheit der Justiz in Frage gestellt werden könnte, grundsätzlich mit Bedacht auszuüben haben. Die Organe der Gerichtsbarkeit haben – in ihrer Funktion als Garant/inn/en der Gerechtigkeit – nämlich eine besondere Rolle in der Gesellschaft: Sie müssen als solche das Vertrauen der Öffentlichkeit genießen, um ihre Aufgaben erfolgreich erfüllen zu können. Zugleich aber fallen Fragen über die Funktionsweise des Justizsystems in das öffentliche Interesse, sodass die Auseinandersetzung damit in der Öffentlichkeit im Lichte des Art. 10 EMRK einen erhöhten Schutz erfährt. Der Umstand allein, dass eine in der Öffentlichkeit diskutierte Angelegenheit politische Implikationen hat, könne eine/n Richter/in nicht davon abhalten, seine/ihre Meinung dazu kundzutun. In einem demokratischen System müssten die Handlungen und Unterlassungen der Regierung nicht nur von Seiten der Gesetzgebung und der Gerichtsbarkeit kontrolliert werden, sondern auch von Seiten der Medien und der Öffentlichkeit.

Im konkreten Fall habe Kövesi ihre Ansichten über Gesetzesreformen in ihrer beruflichen Funktion als Leiterin der obersten Korruptionsbekämpfungsbehörde zum Ausdruck gebracht. Sie habe überdies Untersuchungen gegen Regierungsmitglieder einleiten lassen, um herauszufinden, ob sich gegen diese der Verdacht der Korruption in Zusammenhang mit den genannten Gesetzesreformen erhärten würde. Schließlich habe sie die Öffentlichkeit über die Einleitung dieser Untersuchungen informiert und ihre Ansichten auch in den Medien oder im Rahmen von beruflichen Treffen geäußert.

Der EGMR hob hervor, dass Kövesi – in ihrer Funktion als Leiterin der Korruptionsbekämpfungsbehörde – die Pflicht hatte, ihre Ansicht zu Gesetzesreformen zu äußern, die die Justiz und deren Unabhängigkeit sowie die Korruptionsbekämpfung durch ihre Behörde beeinflussen könnten. Ihre Äußerungen seien aus einer rein beruflichen Sicht nicht über bloße Kritik hinausgegangen, sodass sie im Lichte des Art. 10 EMRK eines erhöhten Schutzes bedurften und jeder Eingriff besonders streng geprüft werden müsse.

Der EGMR kam daher zum Schluss, dass Kövesis frühzeitige Entlassung der Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit der Justiz zuwiderlief. Zudem sei die Sanktion besonders schwer gewesen und habe als solche abschreckende Wirkung gehabt, weil sie im Ergebnis wohl nicht nur Kövesi, sondern auch andere Staatsanwälte/Staatsanwältinnen und Richter/innen davon abhielt, in weiterer Folge in der öffentlichen Debatte über Gesetzesreformen und ganz generell über Fragen zur Unabhängigkeit der Justiz Stellung zu beziehen.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung (jeweils in englischer Sprache).