Fachinfos - Judikaturauswertungen 08.01.2020

Untersuchungshaft verletzt aserbaidschanischen Oppositionspolitiker

Sachverhalt

Der aserbaidschanische Staatsangehörige und Beschwerdeführer Natig Jafarov ist Mitbegründer und Vorstandsmitglied der politischen Bewegung „REAL“ (Republican Alternative Civic Movement). Im Juli 2016 startete REAL eine Kampagne gegen eine Reihe von Verfassungsänderungen, über die im Rahmen eines Verfassungsreferendums am 26. September 2016 abgestimmt werden sollte. Mit den Verfassungsänderungen sollte u.a. eine Anhebung der Amtsdauer des Präsidenten von fünf auf sieben Jahre erfolgen sowie das Amt des Vizepräsidenten geschaffen werden.

Im August 2016 wurde der Beschwerdeführer verhaftet und nach dem aserbaidschanischen Strafgesetzbuch angeklagt: Er habe verabsäumt, der zuständigen Behörde Förderungen zu melden, die er zwischen 2011 und 2014 von einer US-amerikanischen Stiftung für verschiedene Projekte erhalten hat. Die Fördergelder soll er auf mehrere Bankkonten verteilt und – als Gehälter und Bearbeitungsgebühren getarnt – an sich und an andere ausgezahlt haben. Damit erfülle er den Straftatbestand des illegalen Unternehmertums und des schweren Machtmissbrauchs.

Im August 2016 verhängte das zuständige Gericht eine viermonatige Untersuchungshaft über den Beschwerdeführer. Gegen diese Entscheidung erhob er (erfolglos) Berufung an das nächstinstanzliche Gericht. Er nahm am Berufungsverfahren – in einen Metallkäfig gesperrt – teil.

Nach Verhaftungen von weiteren REAL-Mitgliedern beschloss REAL Ende August 2016, an der Kampagne gegen die vorgeschlagenen Verfassungsänderungen nicht teilzunehmen. Kurz darauf wurde der Beschwerdeführer aus der Haft entlassen. Das Verfassungsreferendum fiel zugunsten der vorgeschlagenen Verfassungsänderungen aus.

Nach diesen Ereignissen erhob Jafarov Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR): Dass er im Berufungsverfahren in einen Metallkäfig gesperrt wurde, verstoße gegen Art. 3 EMRK. Außerdem sei er in Art. 5 Abs. 1 lit. c sowie Abs. 3 und 4 EMRK verletzt worden, weil weder ein begründeter Verdacht der Begehung einer Straftat bestanden noch eine wirksame gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft stattgefunden habe. Zudem sei er einzig wegen seiner politischen Aktivität in Zusammenhang mit dem Verfassungsreferendum verhaftet worden; dies verstoße gegen Art. 18 iVm 5 EMRK.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Die Entscheidung des EGMR betrifft insbesondere folgende Punkte:

Verbot erniedrigender Behandlung (Art. 3 EMRK)

Der EGMR beurteilte eingangs die Rechtmäßigkeit der Vorführung des Beschwerdeführers in einem Metallkäfig, die er unter Berufung auf Art. 3 EMRK verneinte: Dabei verwies er auf seine langjährige Rechtsprechung, wonach das Einsperren von Menschen in Metallkäfigen während Gerichtsverhandlungen eine Verletzung der Menschenwürde und somit eine erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellt. Daran ändere im vorliegenden Fall auch die Tatsache nichts, dass die Gerichtsverhandlung nicht öffentlich war.

Recht auf Freiheit (Art. 5 EMRK)

Darüber hinaus sei der Beschwerdeführer in seinem Recht auf Freiheit gemäß Art. 5 EMRK verletzt. Erstens habe kein begründeter Verdacht der Begehung einer Straftat bestanden, der eine Inhaftierung des Beschwerdeführers gerechtfertigt hätte. Der Gerichtshof machte in dem Zusammenhang auf die Ähnlichkeit der strafrechtlichen Vorwürfe seitens der aserbaidschanischen Regierung zwischen dem vorliegenden Fall und den Rechtssachen Rasul Jafarov gg. Aserbaidschan (EGMR 17.3.2016, 69981/14), Mammadli gg. Aserbaidschan (EGMR 19.4.2018, 47145/14) sowie Aliyev gg. Aserbaidschan (EGMR 20.9.2018, 68762/14 und 71200/14) aufmerksam. Der Expertenbericht des Justizministeriums, den die aserbaidschanische Regierung im Zuge des Verfahrens vor dem Gerichtshof vorgelegt hat, sei nicht geeignet, einen Tatverdacht zu begründen: Zum einen sei nicht nachgewiesen, dass dieser Bericht den heimischen Gerichten bei Verhängung der Untersuchungshaft über den Beschwerdeführer vorgelegt wurde. Zum anderen ergebe sich daraus nicht, ob der Beschwerdeführer die erhaltenen Fördergelder mit Gewinnerzielungsabsicht verwendet und damit gewerbsmäßig gehandelt habe. Dies stelle eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK dar.

Zweitens bemängelte der EGMR – unter Verweis auf seine Ausführungen in den Rechtssachen Rasul Jafarov gg. Aserbaidschan und Mammadli gg. Aserbaidschan – dass dem Beschwerdeführer keine ordnungsgemäße gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit seiner Untersuchungshaft gewährt worden ist. Dadurch sei er auch in Art. 5 Abs. 4 EMRK verletzt worden.

Begrenzung der Rechtseinschränkungen (Art. 18 iVm 5 EMRK)

Schließlich bestätigte der EGMR, dass das Recht auf Freiheit des Beschwerdeführers für andere als nach der EMRK vorgesehene Zwecke eingeschränkt worden ist. Unter Verweis auf seine Ausführungen in der Rechtssache Aliyev gg. Aserbaidschan beobachtete der Gerichtshof, dass der vorliegende Fall Teil eines Musters von willkürlichen Verhaftungen von Regierungskritiker/inne/n, Zivilgesellschaftsaktivist/inn/en und Menschenrechtsverteidiger/inne/n durch vergeltende Verfolgungshandlungen und Missbrauch des Strafrechts darstellt.

Erstens handle es sich beim Beschwerdeführer um einen politischen Aktivisten, der an einer Kampagne in Zusammenhang mit dem Verfassungsreferendum im September 2016 beteiligt gewesen sei.

Zweitens sei die Situation des Beschwerdeführers mit der von anderen nennenswerten zivilgesellschaftlichen Aktivist/inn/en und Menschenrechtsverteidiger/inne/n vergleichbar, die wegen großteils ähnlicher Straftaten inhaftiert und angeklagt worden seien.

Drittens spiele der Zeitpunkt der Einleitung des Strafverfahrens und der Inhaftierung des Beschwerdeführers eine wesentliche Rolle: Er sei während des offenen Registrierungsverfahrens für die Kampagne gegen das Referendum festgenommen worden, wo er als offizieller Vertreter von REAL aufgetreten sei. Er sei nach der offiziellen Ankündigung von REAL, an der Kampagne nicht teilzunehmen, aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Vor diesem Hintergrund akzeptierte der EGMR das Vorbringen der Regierung nicht, die Strafverfolgungsbehörden hätten keine Hintergedanken gehabt und die Inhaftierung des Beschwerdeführers hätte ihn nicht an der Teilnahme an der Kampagne gehindert.

Der EGMR betonte dabei die besondere Verwerflichkeit des gegenständlichen Motivs: Der Beschwerdeführer sei nicht als Privatperson verhaftet worden, sondern als Oppositionspolitiker, der eine wichtige öffentliche Funktion im Wege des demokratischen Diskurses wahrnehme. Daher habe die vorliegende Einschränkung nicht nur den Beschwerdeführer und andere oppositionelle Aktivist/inn/en und Unterstützer/innen beeinträchtigt, sondern den Wesenskern der Demokratie als Mittel zur Organisation der Gesellschaft, in der Einzelrechte nur im öffentlichen Interesse beschränkt werden dürften. Da eine Zusammenschau dieser Faktoren darauf hindeutet, dass der Beschwerdeführer im Wege der Inhaftierung für sein politisches Engagement bestraft und von der Teilnahme an der Kampagne abgehalten werden sollte, erachtete der EGMR darin eine Verletzung von Art. 18 iVm 5 EMRK.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung (jeweils in englischer Sprache).