Fachinfos - Judikaturauswertungen 03.10.2024

Unwirksame strafrechtliche Ermittlungen zu Demonstrationsauflösung

EGMR 7.5.2024, 13186/20 u.a., Tsaava u.a. gg. Georgien

Die vorliegende Kammerentscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) betrifft die Auflösung einer Demonstration vor dem georgischen Parlamentsgebäude, die im Juni 2019 stattgefunden hat. Die insgesamt 26 Beschwerdeführer:innen sind Demonstrationsteilnehmer:innen und Journalist:innen, die durch exzessive bzw. gezielte Polizeigewalt verletzt worden sein sollen. Der EGMR stellte einstimmig eine Verletzung (nur) der prozeduralen Aspekte von Art. 3 EMRK (Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) im Hinblick auf die unwirksamen strafrechtlichen Ermittlungen auf innerstaatlicher Ebene fest, die zum Entscheidungszeitpunkt seit mehr als viereinhalb Jahren angedauert hatten. Hingegen beschloss er, keine Entscheidung zur Zulässigkeit bzw. Begründetheit der Beschwerden insbesondere in Bezug auf Art. 10 EMRK (Freiheit der Meinungsäußerung) zu treffen, da die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen seien und der Sachverhalt auf innerstaatlicher Ebene weiter geklärt werden müsse.

Sachverhalt

Die Demonstration war Ausdruck von zivilgesellschaftlicher bzw. politischer Empörung über die Rede eines Abgeordneten des russischen Parlaments, die dieser – im Rahmen einer Sitzung der Interparlamentarischen Versammlung der Orthodoxie – im georgischen Parlament auf Russisch und auf dem Platz des Parlamentspräsidenten sitzend gehalten hatte. Circa 12.000 Demonstrationsteilnehmer:innen hatten sich vor dem Parlamentsgebäude zunächst friedlich versammelt; einige erhielten von Abgeordneten der Opposition Zutritt zum Parlamentsgebäude. Politiker:innen der Opposition forderten den Rücktritt des Parlamentspräsidenten, des Innenministers und des Leiters der Staatssicherheit. Eine weitere Forderung richtete sich auf eine vorgezogene Parlamentswahl und eine Stärkung des Verhältniswahlrechts. Eine bevorstehende Revolution wurde ausgerufen. Schließlich kündigten Politiker:innen der Opposition an, dass das Parlament bei Nichterfüllung der Forderungen besetzt werden würde. Anschließend eskalierte die Lage und Demonstrationsteilnehmer:innen versuchten, den Polizeikordon zum Schutz des Parlamentsgebäudes zu durchbrechen.

Die weiteren Vorgänge im Zuge der Demonstration bzw. deren Auflösung durch Polizeikräfte sind im Detail nach wie vor strittig. Zufolge des Innenministers von Georgien habe eine versuchte Parlamentsstürmung stattgefunden, weshalb die Demonstration unter Anwendung von Polizeigewalt aufgelöst wurde. Dabei wurden – auch friedliche – Demonstrationsteilnehmer:innen und Journalist:innen, darunter der Großteil der Beschwerdeführer:innen, insbesondere durch die Verwendung von Gummigeschossen und angebliche weitere Misshandlungen verletzt.

In ihren dagegen beim EGMR erhobenen Beschwerden gestützt auf Art. 3 EMRK brachten die Beschwerdeführer:innen im Wesentlichen vor, infolge exzessiver Polizeigewalt im Zuge der Demonstrationsauflösung verletzt worden zu sein, ohne dass in dieser Hinsicht wirksame strafrechtliche Ermittlungen durchgeführt worden wären. Die Journalist:innen unter den Beschwerdeführer:innen brachten zudem im Hinblick auf Art. 10 EMRK insbesondere vor, gezielt in ihrer Eigenschaft als Journalist:innen angegriffen worden zu sein. Weiters wurden die Rechte gemäß Art. 11 EMRK (Versammlungsfreiheit) und Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) geltend gemacht.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte

Der EGMR teilte zunächst den Einwand der georgischen Regierung nicht, wonach die Beschwerdeführer:innen den innerstaatlichen Instanzenzug nicht ausgeschöpft hätten. Im Hinblick auf die in den Beschwerden insbesondere im Zusammenhang mit Art. 3 EMRK erhobenen Vorwürfe exzessiver bzw. gezielter Polizeigewalt und der fraglichen Wirksamkeit der – sowohl zum Zeitpunkt der Beschwerdeerhebungen als auch zum Entscheidungszeitpunkt – andauernden strafrechtlichen Ermittlungen, von denen die Vorwürfe jedoch grundsätzlich umfassten seien, sei der Einwand zu verwerfen. Auch sonst sah der EGMR die Beschwerden des Großteils der Beschwerdeführer:innen in Bezug auf Art. 3 EMRK als zulässig an.

Anschließend setzte sich der EGMR mit den prozeduralen Aspekten von Art. 3 EMRK auseinander, indem er seine subsidiäre Rolle sowie die Notwendigkeit betonte, nicht gleich einem erstinstanzlichen Gericht Tatsachenfeststellungen zu treffen. Es gehe vielmehr um die Beurteilung, ob in Bezug auf die von den Beschwerdeführer:innen erhobenen Vorwürfe auf innerstaatlicher Ebene hinreichend ermittelt worden sei. Im Wesentlichen hätten die Vorwürfe einerseits die Verwendung von Gummigeschossen, andererseits weitere Misshandlungen im Zuge der Demonstrationsauflösung und damit jeweils zusammenhängende Verletzungen betroffen. In beiderlei Hinsicht stellte der EGMR einstimmig eine Verletzung der prozeduralen Aspekte des Verbots der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gemäß Art. 3 EMRK im Hinblick auf die als unwirksam qualifizierten strafrechtlichen Ermittlungen fest, die zum Entscheidungszeitpunkt seit mehr als viereinhalb Jahren angedauert hatten.

Hinsichtlich der inhaltlichen Aspekte von Art. 3 EMRK führte der EGMR aus, dass die Vorgänge im Zuge der – unstrittig zunächst friedlichen, später aber eskalierenden – Demonstration, die zu deren Auflösung geführt hätten, eindeutig als Gefahr für die öffentliche Ordnung anzusehen gewesen seien, die den Einsatz von Polizeigewalt, einschließlich der Verwendung von Gummigeschossen durch einzelne Polizeikräfte, grundsätzlich habe rechtfertigen können. Unstrittig sei auch, dass der Großteil der Beschwerdeführer:innen sich während der Vorgänge friedlich verhalten habe, aber durch Gummigeschosse verletzt worden sei. Der EGMR habe letztlich insbesondere zu beurteilen, ob die Verletzungen der Beschwerdeführer:innen bloß eine ungewollte Konsequenz eines grundsätzlich rechtmäßigen bzw. verhältnismäßigen Einsatzes von Polizeigewalt gewesen seien oder ob in dieser Hinsicht eine ungerechtfertigte bzw. exzessive Gewaltausübung stattgefunden habe, die eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstelle. Dahingehend seien aber im Hinblick auf das vor dem EGMR notwendige Beweismaß ("ohne begründeten Zweifel") weitere Ermittlungen auf innerstaatlicher Ebene erforderlich. Die bisherigen strafrechtlichen Ermittlungen seien – wie bereits festgestellt – als unzureichend anzusehen.

Der EGMR beschloss daher mehrheitlich (vgl. das Sondervotum von Richter Gnatovskyy, das der Entscheidung im Volltext unten angehängt ist), keine Entscheidung zur Begründetheit der Beschwerden im Hinblick auf die inhaltlichen Aspekte von Art. 3 EMRK sowie zur Zulässigkeit bzw. Begründetheit der Beschwerden in Bezug auf Art. 10 und 11 EMRK zu treffen, da die strafrechtlichen Ermittlungen noch nicht abgeschlossen seien und der Sachverhalt auf innerstaatlicher Ebene weiter geklärt werden müsse. Er betonte in diesem Zusammenhang erneut seine subsidiäre Rolle im Rechtsschutzsystem der EMRK sowie die geteilte Verantwortlichkeit zwischen den Vertragsstaaten und ihm selbst im Hinblick auf die Einhaltung der in der EMRK garantierten Rechte. Schließlich entschied der EGMR einstimmig, dass in Anbetracht der übrigen Ausführungen keine Notwendigkeit einer Prüfung der Beschwerden in Bezug auf Art. 13 EMRK bestehe.

Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig (vgl. Art. 44 Abs. 2 EMRK).

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung.