Fachinfos - Judikaturauswertungen 11.08.2022

Versammlungsfreiheit, Covid-19 und Twitter

Kein Eilrechtsschutz gegen Appell der deutschen Innenministerin zu „Corona-Spaziergängen“ auf Twitter (11. August 2022)

Verwaltungsgericht Berlin 4.4.2022, 6 L 17/22

Das Verwaltungsgericht Berlin (VG Berlin) gewährte keinen vorläufigen Rechtsschutz gegen eine Äußerung der deutschen Innenministerin auf Twitter bezüglich der Teil­nahme an sogenannten „Corona-Spaziergängen“. Ein Veranstalter von Demonstratio­nen gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen erachtete sich durch den Appell der Mi­nisterin in seinen Rechten verletzt. Der Ausgang des Hauptsacheverfahrens bleibt ab­zuwarten.

Sachverhalt

Die deutsche Innenministerin veröffentlichte im Jänner 2022 die folgende Äußerung auf ihrem privaten Twitteraccount: „Ich wiederhole meinen Appell: Man kann seine Mei­nung auch kundtun, ohne sich gleichzeitig an vielen Orten zu versammeln“. Am selben Tag hatte sie sich praktisch wortgleich bereits auf einer Pressekonferenz des Ministeriums geäußert. Das Bundesministerium des Innern und für Heimat teilte zudem auf seinem Twitterkanal einen Mitschnitt der Pressekonferenz und verlinkte dabei den privaten Account der Bundesministerin.

Ein Veranstalter von Versammlungen zum Protest gegen die staatlichen Maßnahmen gegen COVID-19 (Antragsteller) erachtete sich durch die Äußerung der Ministerin auf ihrem privaten Twitteraccount in seinen Rechten verletzt. Er beantragte unter anderem die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Dieser Antrag richtete sich darauf, die Mi­nisterin vorerst (bis zur Entscheidung in der Hauptsache) zu verpflichten, eine Äußerung wie jene in dem Tweet nicht zu wiederholen.

Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin

Das VG Berlin wies den Eilantrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zurück.

Das Gericht hielt zunächst fest, dass der Tweet der Bundesministerin in Ausübung ihres Ministeramtes erfolgte. Der Tweet bilde angesichts der wortgleichen Wiederholung ei­ner Äußerung der Ministerin auf einer Pressekonferenz ihres Ministeriums mit dieser einen einheitlichen Lebenssachverhalt. Die Äußerung auf Twitter habe somit unter spe­zifischer Inanspruchnahme der Autorität ihres Regierungsamtes und der damit verbun­denen Ressourcen stattgefunden. Daher handle es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit, weshalb der Rechtsweg zum Verwaltungsgericht grundsätzlich eröffnet sei.

Doch habe der Antragsteller nicht ausreichend dargelegt, inwieweit ihn die Äußerung in seinen Rechten beeinträchtige:

Auf das geltend gemachte Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit könne sich der Antragsteller, der weder Repräsentant einer Partei noch Wahlwerber sei, nicht berufen. Dieses Recht komme gegenüber politischen Gruppierungen, die nicht als poli­tische Partei organisiert sind, nicht zum Tragen.

Auch eine Verletzung des Antragsstellers in seinen Grundrechten auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit erachtete das VG Berlin nicht für möglich. Die Äußerung der Mi­nisterin sei ausdrücklich auf die Abhaltung von „Corona-Spaziergängen“, sohin die ge­zielte und unangemeldete Versammlung Protestierender an mehreren Orten gleichzei­tig, bezogen. Der Antragsteller übe diese Protestform jedoch selbst gar nicht aus, son­dern veranstalte vielmehr „normal angemeldete Versammlungen […] im herkömmlichen Sinn“. Da der Appell der Ministerin lediglich ein kleinteiliges Protestgeschehen kritisie­ren wolle, sei die Äußerung nicht geeignet, interessierte Bürger:innen von einer Teil­nahme an den vom Antragsteller veranstalteten Versammlungen abzuhalten und damit deren Wirkung nachhaltig zu beeinflussen. Zudem handle es sich bloß um einen unver­bindlichen Aufruf, der weder mit einer Androhung von Sanktionen noch einer generellen Abwertung oder Missbilligung der Demonstrationen verbunden gewesen sei. Etwa­ige Auswirkungen des Tweets auf die Meinungs- und Willensbildung der Bevölkerung müsse der Antragssteller hinnehmen. Eine Verletzung der Meinungsfreiheit sei dadurch nicht möglich.

Zudem sei die Äußerung durch die Befugnis der Regierung zur Informations- und Öf­fentlichkeitsarbeit gerechtfertigt. Diese sei „nicht nur zulässig, sondern auch notwen­dig, um den Grundkonsens im demokratischen Gemeinwesen lebendig zu erhalten“. Be­schränkungen der Befugnis zur Öffentlichkeitsarbeit ergäben sich nur aus der Kompe­tenzordnung und dem Sachlichkeitsgebot, welche im vorliegenden Fall beide gewahrt seien. Der Tweet verlasse insbesondere nicht die Ebene eines sachlichen, rationalen Diskurses (auch in der Wortwahl). Der Appell ziele nämlich nicht auf eine Missbilligung regierungskritischer Positionen ab. Vielmehr sei es der Ministerin darum gegangen, auf die Erschwernisse hinzuweisen, die den Sicherheitsbehörden durch die Abhaltung kleinteiliger Protest-Spaziergänge hinsichtlich der Gewährleistung des Versammlungs­rechts entstünden. Dabei handle es sich um einen nachvollziehbaren, sachlichen Grund für die Äußerung.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung.