Fachinfos - Judikaturauswertungen

Wahlrechtsausschluss geschäftsunfähiger Personen

EGMR: Automatischer Wahlrechtsausschluss ohne individuelle gerichtliche Prüfung verletzt Recht auf freie Wahlen (11. August 2022)

EGMR 15.2.2022, 26081/17, Anatoliy Marinov gg. Bulgarien

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellte abermals fest, dass der automatische Wahlrechtsausschluss geschäftsunfähiger Personen aufgrund einer allgemein anwendbaren Rechtsvorschrift ohne individuelle gerichtliche Prüfung einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf freie Wahlen darstellt.

Sachverhalt

Anatoliy Marinov ist ein bulgarischer Staatsangehöriger, bei dem im Jahr 1999 eine psy­chiatrische Störung diagnostiziert wurde. Aus diesem Grund wurde er im Mai 2000 un­ter Teilvormundschaft gestellt. Dies hatte gemäß Artikel 42 § 1 der bulgarischen Ver­fassung zur Folge, dass er ex lege vom Wahlrecht ausgeschlossen war. Marinov bean­tragte ab 2015 die Aufhebung der Teilvormundschaft – eingangs ohne Erfolg. Im Mai 2017 wurde die Teilvormundschaft schließlich aufgehoben und seine Rechtsfähig­keit wiederhergestellt, da er dem Gericht zufolge wieder in der Lage war, seine Ange­legenheiten zu regeln und die Folgen seiner Handlungen zu erkennen. An der Wahl des bulgarischen Parlaments im März 2017 konnte Marinov wegen der Teilvormundschaft jedoch noch nicht teilnehmen.

Marinov wandte sich an den EGMR und brachte vor, durch den Wahlausschluss auf­grund einer allgemein anwendbaren Rechtsvorschrift ohne individuelle gerichtliche Prüfung in seinem Recht auf freie Wahlen gemäß Art. 3 1. ZPEMRK verletzt worden zu sein.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Der EGMR stellte eingangs fest, dass der Wahlrechtsausschluss zwar das legitime Ziel verfolgte, sicherzustellen, dass nur Personen an der Wahl des bulgarischen Parlaments teilnehmen, die in der Lage sind, informierte Entscheidungen zu treffen. Dieser Eingriff in das Recht auf freie Wahlen gemäß Art. 3 1. ZPEMRK sei allerdings unverhältnismäßig gewesen:

Zum einen werde nach dem bulgarischen Recht nämlich beim Wahlrechtsausschluss nicht zwischen Personen unterschieden, die unter vollständiger Vormundschaft stehen, und solchen, die unter teilweiser Vormundschaft stehen. Artikel 42 § 1 der bulgarischen Verfassung betreffe vielmehr generell alle Bürger:innen unter Vormundschaft. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass der bulgarische Gesetzgeber diesbezüglich jemals ver­sucht hat, die konkurrierenden Interessen gegeneinander abzuwägen oder die Verhält­nismäßigkeit des Grundrechtseingriffs zu bewerten und damit den Gerichten die Mög­lichkeit zu geben, unabhängig von der Entscheidung, eine Person unter Vormundschaft zu stellen, eine besondere Prüfung der individuellen Fähigkeit zur Ausübung des Wahl­rechts vorzunehmen.

Zum anderen habe Marinov sein Wahlrecht infolge einer automatischen und pauschalen Einschränkung des Wahlrechts für Personen unter teilweiser Vormundschaft verloren. Dem EGMR zufolge ist die Behandlung aller Menschen mit geistigen oder psychiatri­schen Behinderungen als eine einzige Gruppe eine fragwürdige Klassifizierung und müssen Eingriffe in ihre Rechte einer strengen Kontrolle unterworfen werden. Der un­terschiedslose Wahlrechtsausschluss ohne individuelle gerichtliche Prüfung allein auf­grund der Tatsache, dass Marinov unter teilweise Vormundschaft gestellt wurde, könne jedenfalls nicht als verhältnismäßiger Eingriff in das Recht auf freie Wahlen angesehen werden.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung (beide in englischer Sprache).

Vgl. zu dieser Thematik auch die Auswertung der Entscheidung des EGMR 2.2.2021, 25802/18 und 27338/18, Strøbye und Rosenlind gg. Dänemark.