Der EGMR stellte eingangs fest, dass der Wahlrechtsausschluss zwar das legitime Ziel verfolgte, sicherzustellen, dass nur Personen an der Wahl des bulgarischen Parlaments teilnehmen, die in der Lage sind, informierte Entscheidungen zu treffen. Dieser Eingriff in das Recht auf freie Wahlen gemäß Art. 3 1. ZPEMRK sei allerdings unverhältnismäßig gewesen:
Zum einen werde nach dem bulgarischen Recht nämlich beim Wahlrechtsausschluss nicht zwischen Personen unterschieden, die unter vollständiger Vormundschaft stehen, und solchen, die unter teilweiser Vormundschaft stehen. Artikel 42 § 1 der bulgarischen Verfassung betreffe vielmehr generell alle Bürger:innen unter Vormundschaft. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass der bulgarische Gesetzgeber diesbezüglich jemals versucht hat, die konkurrierenden Interessen gegeneinander abzuwägen oder die Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs zu bewerten und damit den Gerichten die Möglichkeit zu geben, unabhängig von der Entscheidung, eine Person unter Vormundschaft zu stellen, eine besondere Prüfung der individuellen Fähigkeit zur Ausübung des Wahlrechts vorzunehmen.
Zum anderen habe Marinov sein Wahlrecht infolge einer automatischen und pauschalen Einschränkung des Wahlrechts für Personen unter teilweiser Vormundschaft verloren. Dem EGMR zufolge ist die Behandlung aller Menschen mit geistigen oder psychiatrischen Behinderungen als eine einzige Gruppe eine fragwürdige Klassifizierung und müssen Eingriffe in ihre Rechte einer strengen Kontrolle unterworfen werden. Der unterschiedslose Wahlrechtsausschluss ohne individuelle gerichtliche Prüfung allein aufgrund der Tatsache, dass Marinov unter teilweise Vormundschaft gestellt wurde, könne jedenfalls nicht als verhältnismäßiger Eingriff in das Recht auf freie Wahlen angesehen werden.
Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung (beide in englischer Sprache).
Vgl. zu dieser Thematik auch die Auswertung der Entscheidung des EGMR 2.2.2021, 25802/18 und 27338/18, Strøbye und Rosenlind gg. Dänemark.