Fachinfos - Judikaturauswertungen 06.10.2020

Wallonisches Parlament darf nicht über seine eigene Wahl entscheiden

Wallonisches Parlament darf nicht über Rechtmäßigkeit seiner eigenen Wahl entscheiden. EGMR 10.7.2020, 310/15, Mugemangango gg. Belgien (6. Oktober 2020)

Sachverhalt

Germain Mugemangango kandidierte im Mai 2014 bei der Wahl des wallonischen Parlaments. Die Liste PTB-GO!, deren Spitzenkandidat er war, erreichte 16.554 Stimmen und damit die Sperrklausel von 5% der Stimmen. Sie erhielt letztlich aber kein Mandat zugewiesen, weil sie die für den direkten Einzug über eine Listenverbindung nötige Zahl an Stimmen wegen Fehlens von 14 Stimmen knapp nicht erreichte.

Mugemangango focht die Wahl an und beantragte eine Neuauszählung jener 21.385 Stimmzettel, die in seinem Wahlkreis für ungültig erklärt worden waren. Er brachte vor, dass es bei der Stimmauszählung zu Unregelmäßigkeiten gekommen sei: Die Auszählungen hätten teilweise mehr als zwölf Stunden ohne Pause gedauert, sodass nicht ausgeschlossen werden könne, dass es zu Auszählungsfehlern kam; Wahlzellen seien in Eile aufgestellt worden; die Mitglieder der Wahlbehörden seien nicht ausreichend geschult gewesen; teilweise seien Wahlzettel einige Tage nach der Auszählung entdeckt worden, ohne dass festgestellt werden konnte, ob diese mitausgezählt worden waren.

Nach der belgischen Rechtslage hatte das Plenum des (neu gewählten) wallonischen Parlaments über Mugemangangos Wahlanfechtung zu entscheiden, und zwar nach Vorberatung in einem eigens dafür eingerichteten Wahlprüfungsausschuss. Letzterer hörte Mugemangango und seine Anwältin in einer öffentlichen Sitzung an und entschied sodann in vertraulicher Sitzung, dass der Wahlanfechtung stattgegeben werden sollte und die für ungültig erklärten Stimmzettel neu ausgezählt werden sollten.

Der entsprechende Bericht des Wahlprüfungsausschusses wurde in der konstituierenden Sitzung des wallonischen Parlaments im Plenum behandelt: Nach der Debatte wurde der Antrag des Wahlprüfungsausschusses auf Neuauszählung der Stimmzettel allerdings mit 43 Gegen- und 32 Für-Stimmen abgelehnt. An der Abstimmung im Plenum nahmen auch jene Abgeordneten teil, die in Mugemangangos Wahlkreis gewählt worden waren.

Mugemangango wandte sich dagegen an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR): Er behauptete, in seinem Recht auf freie Wahlen (Art. 3 1. ZPEMRK) verletzt worden zu sein, weil die Stimmzettel nicht neu ausgezählt worden seien und weil das Plenum des wallonischen Parlaments zugleich als entscheidungsbefugte Instanz und als Partei agiert habe. Zudem argumentierte er, dadurch in seinem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Art. 13 EMRK) verletzt worden zu sein.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Recht auf freie Wahlen (Art. 3 1. ZPEMRK)

Der EGMR betonte eingangs, dass die Zuweisung von Mandaten eine zentrale Frage der Demokratie ist und dass den Mitgliedstaaten dabei grundsätzlich ein weiter Spielraum zukommt. Er hob jedoch hervor, dass er überprüfen kann, ob die Mitgliedstaaten in diesem Zusammenhang willkürlich vorgingen.

Für den Erfolg eines Wahlprozesses ist es dem EGMR zufolge essentiell, dass eine Neuauszählung von Stimmzetteln in einem fairen Verfahren stattfinden kann. Das Recht auf freie Wahlen wäre in Gefahr, wenn substantiierte Unregelmäßigkeiten im Wahlverfahren nicht effektiv überprüft werden könnten.

Im konkreten Fall habe der Wahlprüfungsausschuss des wallonischen Parlaments in seinem Bericht festgestellt, dass die Mandate bei einer Neuauszählung der Stimmzettel in Mugemangangos Wahlkreis möglicherweise anders zu verteilen gewesen wären und dass ihm unter Umständen ein Mandat zugewiesen hätte werden müssen. Die Wahlanfechtung sei demnach nicht von vornherein unbegründet gewesen. Es sei daher zu prüfen, ob die behaupteten Unregelmäßigkeiten effektiv überprüft worden sind.

In diesem Zusammenhang unterstrich der EGMR, dass die nationale Rechtsordnung angemessene und ausreichende Garantien enthalten muss, durch die Willkür bei Wahlanfechtungen hintangehalten wird. Solche Garantien würden sicherstellen, dass die Rechtsstaatlichkeit gewahrt bliebe, dass die Integrität einer Wahl gesichert werde und dass das Parlament stets ausreichend legitimiert sei, ohne der Kritik ausgesetzt sein zu müssen, nicht korrekt zusammengesetzt zu sein. Seien diese Garantien nicht gegeben, stehe das Vertrauen der Wähler/innen in das Parlament auf dem Spiel.

Im vorliegenden Fall seien sowohl der Wahlprüfungsausschuss als auch das Plenum des wallonischen Parlaments ausschließlich aus Mitgliedern zusammengesetzt gewesen, die im Zuge der Wahl gewählt worden waren, deren Rechtmäßigkeit Mugemangango angefochten hatte. Dem EGMR zufolge können Abgeordnete definitionsgemäß nicht politisch neutral sein. In einem System, wie jenem in Belgien, wo das Parlament als einzige und letzte Instanz über Wahlanfechtungen zu entscheiden hat, müsse besondere Acht darauf gelegt werden, dass die nationale Rechtsordnung – im Wege von Verfahrensbestimmungen für Wahlanfechtungen – unparteiliche Entscheidungen sicherstellt.

Eben dies sei im Konkreten aber nicht gegeben gewesen: Bei der Abstimmung im Plenum des wallonischen Parlaments seien nämlich alle als gewählt geltenden Abgeordneten, auch jene aus Mugemangangos Wahlkreis, stimmberechtigt gewesen. Im Ergebnis hätten also auch Mugemangangos direkte politische Gegner/innen an der Abstimmung über seine Wahlanfechtung teilnehmen können – Personen also, die ihre Mandate möglicherweise verloren hätten, wenn der Wahlanfechtung stattgegeben worden wäre, und deren Interessen folglich jenen von Mugemangango direkt entgegengesetzt gewesen seien.

Dazu kam dem EGMR zufolge, dass die belgische Rechtsordnung nicht ausreichend klar festlegt, nach welchen Kriterien das Plenum des wallonischen Parlaments Wahlanfechtungen behandeln muss, und nicht näher regelt, welche Wirkung einer allfälligen Neuauszählung von Stimmzetteln zukommen würde.

Schließlich seien Mugemangango auch nicht ausreichend Verfahrensgarantien zur Verfügung gestanden: Seine Anhörung in der öffentlichen Sitzung des Wahlprüfungsausschusses sei nicht gesetzlich vorgesehen gewesen, sondern ihm lediglich ad hoc ermöglicht worden. Das Plenum des wallonischen Parlaments habe zudem nicht näher begründet, aus welchen Gründen es dem Antrag des Wahlprüfungsausschusses auf Neuauszählung der Stimmzettel nicht nachgekommen ist.

Der EGMR kam daher zum Schluss, dass Mugemangango in seinem Recht auf freie Wahlen (Art. 3 1. ZPEMRK) verletzt wurde.

Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Art. 13 EMRK)

Der EGMR hob einleitend hervor, dass er die Beschwerde nur deshalb separat unter dem Blickwinkel des Art. 13 EMRK prüfen muss, weil im konkreten Fall das Parlament als erste und letzte Instanz über die Wahlanfechtung entschieden hatte, und nicht auch ein Gericht oder eine gerichtsähnliche Institution eingebunden war.

Mugemangango hätte nach belgischem Recht keine Möglichkeit gehabt, die Entscheidung des Plenums des wallonischen Parlaments weiter zu bekämpfen. Auch im Verfahren vor dem Wahlprüfungsausschuss und dem Plenum des wallonischen Parlaments seien ihm nicht ausreichend Verfahrensgarantien zur Verfügung gestanden, sodass Mugemangango auch in seinem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Art. 13 EMRK) verletzt worden sei.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung (jeweils in englischer Sprache).