Fachinfos - Fachdossiers 31.10.2023

Welche Bedeutung hat die Sozialpartnerschaft in Österreich?

Unklarheit über die Rolle der Sozialpartner

Jedes Jahr startet mit den Verhandlungen der Metalltechnischen Industrie die sogenannte Herbstlohnrunde: Damit rückt die Rolle der Sozialpartner ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Regelmäßig wird diskutiert, welche Vor- und Nachteile deren Einbindung in Entscheidungsfindungsprozesse hat. Dabei herrscht oft Unklarheit über die eigentliche "Macht" der Sozialpartner bzw. über die rechtliche Einordnung und den politischen Stellenwert der Sozialpartnerschaft.

Was ist die österreichische Sozialpartnerschaft?

Die Sozialpartnerschaft ist ein zentrales Merkmal des politischen Systems Österreichs der Zweiten Republik. Sie bezeichnet die freiwillige Zusammenarbeit der großen gesellschaftlichen Interessenvertretungen untereinander und mit der Bundesregierung bzw. den Bundesministerien. Auch als Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft bezeichnet, gilt sie als ein wesentlicher Faktor für den Wiederaufbau Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg und für die Erhaltung des sozialen Friedens. Im europäischen Vergleich wird die österreichische Sozialpartnerschaft nach wie vor als Paradebeispiel für eine umfassende und koordinierte Vertretung von Gruppeninteressen betrachtet (Mailand 2020). Diese Form der Kooperation, die gemeinhin auch als Austrokorporatismus bezeichnet wird, zeichnet sich durch ihre Breite aus, die nahezu alle Bereiche der Wirtschafts- und Sozialpolitik umfasst.

Die Kernidee der Sozialpartnerschaft liegt darin, politische Ziele im Dialog jener Gruppen zu erarbeiten, die als repräsentativ für die Arbeitgeber:innen- und die Arbeitnehmer:innenseite verstanden werden. Diese auf Konsens und Kompromiss ausgelegte Gesprächs- und Verhandlungskultur bezieht sich sowohl auf die inhaltliche Aushandlung gegensätzlicher Positionen der Sozialpartner untereinander (z. B. bei Regelungen betreffend Lohnverhandlungen oder Arbeitsbedingungen) als auch auf die Zusammenarbeit mit der Regierung (etwa zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung in Österreich).

Seit wann gibt es die Sozialpartner?

Erste Ansätze der Sozialpartnerschaft reichen bis in das 19. Jahrhundert zurück. In ihrer heutigen Form entwickelte sich die österreichische Sozialpartnerschaft jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge des Wiederaufbaus und der Gestaltung einer stabilen sozialen Ordnung. Dies brachte eine besondere Form der Zusammenarbeit hervor, die auf zwei Institutionen beruhte: der Regierungsform der Großen Koalition und der Zusammenarbeit der großen Interessenverbände in der Sozialpartnerschaft. Sehr bald kam es bei allen in die Sozialpartnerschaft eingebundenen Interessenorganisationen zur Bildung von Dachverbänden und zur Zentralisierung der innerverbandlichen Entscheidungsstrukturen.

Diese schlugen sich auch in der Gründung der Paritätischen Kommission für Preis- und Lohnfragen im März 1957 nieder (Tálos 2008). Das aus Vertreter:innen der Sozialpartner und der Regierung zusammengesetzte Gremium beriet bis in die späten 1990er-Jahre über Fragen der Lohn- und Preispolitik sowie andere maßgebende wirtschaftspolitische Probleme. Dass die Paritätische Kommission seit 1998 nicht mehr zusammengetreten ist, zeigt, dass die österreichische Sozialpartnerschaft insbesondere seit den 1990er-Jahren einen Bedeutungswandel erlebt.

Wie ist die Sozialpartnerschaft heute institutionalisiert und organsiert?

In rechtlicher Hinsicht lassen sich die Sozialpartner in zwei Arten von Interessenverbänden unterteilen: Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Pflichtmitgliedschaft (dazu gehören die Kammern, wie etwa die Wirtschaftskammer oder die Arbeiterkammer) sowie freie Verbände, die nach dem Vereinsgesetz 2002 (VerG) eingerichtet sind und deren Mitgliedschaft freiwillig ist. Bundesgesetze wie das Arbeiterkammergesetz 1992 (AKG) oder das Wirtschaftskammergesetz 1998 (WKG) legen die grundlegenden Aufgaben, Organe und Kontrollen der Kammern fest. Demgegenüber richten die Vereine ihre Aktivitäten nach den eigenen Statuten, also den Vereinbarungen ihrer Mitglieder, aus.

Obwohl den Sozialpartnern seit 1945 eine zentrale Rolle bei der Mitgestaltung der Wirtschafts- und Sozialpolitik zugekommen ist, wurde diese erst 2008, nach dem Österreich-Konvent, im Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) anerkannt. Art. 120a Abs. 2 B-VG bringt demnach das Bekenntnis zur österreichischen Sozialpartnerschaft und ihre Bestandsgarantie zum Ausdruck (vgl. Palmstorfer 2021, Öhlinger 2008).

Auf Bundesebene umfasst die Sozialpartnerschaft vier Dachverbände, die eine bestimmende Rolle sowohl in der Interessenpolitik als auch im politischen Entscheidungsprozess spielen. Auf Arbeitnehmer:innenseite sind das die Arbeiterkammer (AK) und der als freier Verein eingerichtete Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB), auf der Arbeitergeber:innenseite die Wirtschaftskammer Österreich (WKO) und die Landwirtschaftskammer (LKÖ). Daneben gibt es noch weitere Kammern mit Pflichtmitgliedschaft für die freien Berufe, etwa die Rechtsanwaltskammer oder die Ärztekammer, und Vereine wie z. B. die Industriellenvereinigung. Diese werden aber nicht zu den klassischen Sozialpartnern gezählt, da ihre Hauptfunktionen nicht primär in der Interessenvertretung der Arbeitnehmer:innen oder Arbeitgeber:innen im breiteren Sinn liegen.

Wie wirken die Sozialpartner an den Verhandlungen der Kollektivverträge mit?

Eine zentrale Aufgabe der Sozialpartner ist die Verhandlung und der Abschluss von Kollektivverträgen, die die Rechte und Pflichten von Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen regeln. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, in denen diese Angelegenheiten gesetzlich oder auf individueller Unternehmensebene bzw. durch freiwillige Interessenvertretungen getroffen werden, ist das österreichische Modell der Sozialpartnerschaft darauf ausgerichtet, dass Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen ihre Forderungen im Ausgleich beidseitiger Interessen und unter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft verhandeln.

Die Kollektivverträge werden typischerweise von den Unterorganisationen der WKO aufseiten der Arbeitgeber:innen und dem ÖGB aufseiten der Arbeitnehmer:innen abgeschlossen. Sie beinhalten die wesentlichen Bestandteile von Arbeitsverträgen, wie etwa Mindestlöhne, Arbeitszeiten oder Kündigungsfristen. Besonderes Augenmerk gilt dabei jährlich den Verhandlungen über Lohnerhöhungen (zum Ausgleich von Teuerung und Inflation). Diese sogenannte Herbstlohnrunde beginnt jedes Jahr mit den Kollektivvertragsverhandlungen der Metalltechnischen Industrie. Das Interesse an diesen Verhandlungen ist traditionell sehr groß, da der Lohnabschluss der Metallindustrie als Orientierungspunkt für die weiteren Branchen dient.

Wie wirken die Sozialpartner im Gesetzgebungsprozess mit?

Die Sozialpartner bringen sich in unterschiedlicher Art und Weise in den Gesetzgebungsprozess ein. Wie ein gemeinsames Papier von Wirtschaftskammer Österreich und Arbeiterkammer Österreich (2011) verdeutlicht, legen die Sozialpartner Wert darauf, dass es sich bei ihrer Tätigkeit um Interessenvertretung, meist gegenüber dem Staat, handelt. Von Lobbying – im Sinne "entgeltliche[r] Tätigkeiten, die auf die unmittelbare Beeinflussung von für den Staat handelnden Personen [...] gerichtet sind" (ebd., S. 4) – unterscheidet sie sich nach ihrem eigenen Selbstverständnis u. a. durch Repräsentativität, demokratische Legitimation (durch institutionalisierte Teilnahme innerhalb des politischen System Österreichs), hohe interne demokratische Qualität und das Handeln im gesamtgesellschaftlichen Interesse.

Welche Ziele, Schwerpunkte und Argumentationslinien die Sozialpartner verfolgen, lässt sich anhand einer Vielzahl von öffentlich zugänglichen Dokumenten identifizieren. Aus einer analytischen Außenperspektive kann dabei zwischen Bemühungen unterschieden werden, die unmittelbar auf parlamentarische Prozesse abzielen, und Aktivitäten, die sich generell der politischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung vor, nach und parallel zu parlamentarischen Prozessen widmen.

Aktivitäten im außerparlamentarischen Bereich

Zu letzterem Bereich zählen Veröffentlichungen, die bestimmte Themen setzen und Politikfelder mitgestalten sollen. Das Spektrum geht dabei von eher allgemein gehaltenen Positionspapieren über themenspezifische Initiativen und Veranstaltungen bis hin zur Veröffentlichung von Studien oder gar konkreten Reformvorschlägen. Während sich z. B. die Bundesarbeiterkammer dabei einem breiten Themenspektrum von Arbeit, Sozialem und Wirtschaft bis hin zu Umwelt, Verkehr und Wissenschaft widmet, konzentriert sich z. B. die Landwirtschaftskammer auf Fragestellungen, die direkt(er) mit ihrem Kernbereich, der Landwirtschaft, zusammenhängen.

Darüber hinaus haben die Sozialpartner die Möglichkeit, frühzeitig auf den Gesetzwerdungsprozess einzuwirken, wenn sie "in Beratungen vor Ausarbeitung eines Ministerialentwurfes und vor Einbringung in den Ministerrat eingebunden [werden]" (Tálos 2005, S. 193).

Abseits der individuellen Arbeit der einzelnen Sozialpartner treten diese aber auch gemeinsam mit bestimmten Themen an die Öffentlichkeit. Im Mittelpunkt stand dabei lange Zeit die Paritätische Kommission (s. o.). Diese ist zwar seit 1998 nicht mehr zusammengekommen, allerdings ist der Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen, einer der Unterausschüsse, die Strategien und Maßnahmen erarbeiten sowie allfällige Konflikte bearbeiten, weiterhin sehr aktiv.

Die Sozialpartner selbst bezeichnen diesen Beirat als Think Tank und Kompetenzzentrum der Sozialpartnerschaft, in dem Expert:innen der Sozialpartner wirtschafts- und sozialpolitische Fragestellungen (mithilfe von u. a. Untersuchungen, Studien und Gutachten) erörtern sowie gemeinsam Empfehlungen und Vorschläge ausarbeiten. Gemeinsame Positionierungen oder Positionspapiere sind aber die Ausnahme: 2023 wurde ein Positionspapier zu Genehmigungsverfahren veröffentlicht, davor zuletzt 2017 eine Positionierung zu Investitionen in eine nachhaltige Zukunft.

Aktivitäten in direkter Verbindung zu parlamentarischen Prozessen

Im wahrsten Sinne des Wortes im Parlament vertreten sind Sozialpartner dann, wenn ihre Repräsentant:innen Abgeordnete des Nationalrates bzw. Mitglieder des Bundesrates sind. Auf diese Art sind alle vier Dachverbände sowohl im Nationalrat als auch im Bundesrat vertreten, verteilt auf alle Klubs mit Ausnahme der NEOS.

Dabei lassen sich die einzelnen Sozialpartner nicht bestimmten Klubs zuordnen. Zum Beispiel sitzen Vertreter:innen aller vier Sozialpartner für den ÖVP-Klub im Nationalrat. Grundsätzlich muss an dieser Stelle allerdings betont werden, dass Mandate im Nationalrat auf Basis der Wahl von wahlwerbenden Parteien zugeteilt und Mitglieder des Bundesrates von den Landtagen, ebenfalls gemäß dem Stärkeverhältnis der Parteien, entsandt werden. Dementsprechend vertreten sie in ihrer Funktion als Mandatar:innen nie ausschließlich die partikularen Interessen des hinter ihnen stehenden Sozialpartners.

Abgesehen davon erfolgt die Interessenvertretung durch die Sozialpartner in direkter Nähe zum Parlament aber auch dann, wenn ihre Vertreter:innen als Expert:innen in Beratungen der parlamentarischen Ausschüsse einbezogen werden (z. B. im Sozialausschuss des Nationalrates). Außerdem werden sie auch in der Vorbereitung und Formulierung einschlägiger Gesetzentwürfe direkt involviert. In der Vergangenheit schlug sich das sowohl in Regierungsvorlagen als auch in Initiativanträgen nieder (siehe Tálos 2005, S. 193). Auf diesem Wege fließen ihre Positionen sehr unmittelbar in den Gesetzgebungsprozess ein.

Schließlich steht den Sozialpartnern wie allen anderen Organisationen, Institutionen und auch Individuen noch das Begutachtungsverfahren als Instrument der Mitwirkung im Gesetzgebungsprozess zur Verfügung. Während des gesamten parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens können auf der Website des österreichischen Parlaments unter Das Begutachtungsverfahren | Parlament Österreich zu allen Gesetzesinitiativen Stellungnahmen abgegeben und auch aufgerufen werden, z. B. alle Stellungnahmen des Österreichischen Gewerkschaftsbunds in der XXVII. Gesetzgebungsperiode oder alle Stellungnahmen der Wirtschaftskammer Österreich in der XXVII. Gesetzgebungsperiode

Die hier beschriebene Mitwirkung der Sozialpartner im Gesetzgebungsprozess bezieht sich auf die Bundesebene. Gleichzeitig können die Sozialpartner in den Bundesländern ihre Interessen in ähnlicher Weise in der jeweiligen Landesgesetzgebung vertreten.

Aktuelle Diskussionen

Die Sozialpartnerschaft stellt nach wie vor ein bewährtes Ausgleichssystem in Form einer institutionalisierten Zusammenarbeit dar. Neben der politischen Grundlagenarbeit spielt dabei auch die umfangreiche Servicedienstleistung für die Mitglieder eine wichtige Rolle (siehe etwa das umfangreiche Beratungs- und Informationsangebot der AK).

Dennoch hat die österreichische Sozialpartnerschaft seit den 1990er-Jahren einen Bedeutungswandel erlebt. Auf der einen Seite hat der EU-Beitritt Österreichs 1995 zur Integration der Sozialpartnerschaft in europäische Dachverbände geführt. Seither werden viele Angelegenheiten der Interessenverbände auf EU-Ebene entschieden. Weiters wurde die Sozialpartnerschaft aufgrund sozioökonomischer Gründe (z. B. Globalisierung, EU-Binnenmarkt) geschwächt (Hinterseer 2020). Auf der anderen Seite haben die Finanzkrise und die COVID-19-Pandemie aber auch "neue Betätigungsmöglichkeiten für die Sozialpartner als Krisenmanager" geschaffen, indem sie noch stärker in das gemeinsame Handeln mit der Regierung eingebunden wurden (Pernicka et al. 2020, S. 23).

Ein häufig geäußerter Kritikpunkt an der Sozialpartnerschaft ist die weitgehende Intransparenz ihrer Arbeitsweise, die in weiten Bereichen informell und nicht öffentlich ist. Andererseits ermögliche die informelle Natur der Konfliktregelung aber auch, dass alle an den Aushandlungsprozessen beteiligten Gruppen den Konsens mittragen und nichts über vorhergehende Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten nach außen dringt (Hinterseher 2020).

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