Fachinfos - Fachdossiers 15.12.2022

Wie kann politische Gewalt die Demokratie gefährden?

Aufgrund zunehmender Vorfälle von politischer Gewalt beschäftigt sich das Fachdossier mit der Frage, welche Gefahren politische Gewalt für die Demokratie bedeuten kann. (15.12.2022)

Wie kann politische Gewalt die Demokratie gefährden?

In Deutschland wurden am 7. Dezember 2022 25 Personen festgenommen, weil sie als Mitglieder der sogenannten „Reichsbürger:innen“ mutmaßlich geplant hatten, bestehende staatliche Institutionen gewaltsam durch eigene zu ersetzen. Im Vorfeld der Wahlen zum US-Kongress im November 2022 warnte US-Präsident Joe Biden, dass die Fundamente der US-amerikanischen Republik durch gewalttätige Handlungen seitens der Unterstützer:innen seines Vorgängers Donald Trump bedroht werden würden. Auch Wissenschaftler:innen wie Rachel Kleinfeld vom Carnegie Endowment for International Peace oder Darrell M. West von der Brookings Institution warnen davor, dass eine Polarisierung der politischen Debatte sowie Extremismus und Radikalisierung zu einer Zunahme von Vorfällen politischer Gewalt führen. Das werde zu einer ernsthaften Gefahr für die Demokratie und könne langfristigen Schaden anrichten.

Das Fachdossier widmet sich aus Anlass dieser Entwicklungen der Beantwortung der Fragen, was als politische Gewalt gilt, welche Gefahren davon ausgehen, in welcher Form sie in Österreich auftritt und welche politischen Anstrengungen unternommen werden, um ihr entgegenzuwirken.

Wann ist Gewalt politisch?

In der öffentlichen Wahrnehmung wird politische Gewalt meist mit Extremismus und Terrorismus, Attacken auf Politiker:innen und in jüngster Vergangenheit zunehmend auch mit gewaltsamen Ausschreitungen (z. B. rund um Demonstrationen gegen Covid-19-Maßnahmen) assoziiert.

Diverse Statistiken sollen unterstreichen, dass bestimmte Handlungen, die in diese Kategorie fallen, immer häufiger werden. Eine solche zitierte Rachel Kleinfeld, Expertin in Fragen Demokratie, Konflikt und Governance, in ihrer Aussage vor dem Sonderausschuss des Repräsentantenhauses, welcher die Attacke vom 6. Jänner 2021 auf das US-Kapitol untersucht. Demnach haben sich Drohungen gegen Mitglieder des US-Kongresses in den letzten fünf Jahren verzehnfacht. Im Mai 2022 präsentierte das deutsche Bundesministerium des Innern und für Heimat einen Bericht über politisch motivierte Gewalttaten im Jahr 2021, wonach deren Zahl einen neuen Höchststand erreicht (mit Ausnahme der Jahre 2015 und 2016). Alleine jene Menschen, welche den „Reichsbürger:innen“ zugeordnet werden, verübten laut Auskunft der deutschen Innenministerin in diesem Jahr 239 Gewalttaten.

In der Polizeilichen Kriminalstatistik der österreichischen Polizei findet der Begriff „politisch motivierte Gewalt“ keine Erwähnung. Auf Nachfrage verweist das Bundesministerium für Inneres diesbezüglich jedoch auf den jährlich erscheinenden Verfassungsschutzbericht. Darin wird ein allgemeines Lagebild von islamistischem Extremismus und Terrorismus sowie Rechts- und Linksextremismus gezeichnet. Der Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2021 wird erst veröffentlicht, nachdem er dem Ständigen Unterausschuss des Ausschusses für innere Angelegenheiten vorgelegt wurde – das ist bis dato noch nicht erfolgt. Abgesehen davon führt der Bundesminister für Inneres in Beantwortungen parlamentarischer Anfragen zu rechtsextremen, rassistischen und antisemitischen Straftaten im ersten Halbjahr 2022 und zu Linksextremismus in Österreich Zahlen zu politisch motivierten Straftaten an.

Im Grunde sind diese Handlungen meist direkte physische und/oder psychische Schädigungen von Menschen durch Menschen. Sie finden üblicherweise vor den Augen der Öffentlichkeit statt und haben das Ziel, politische Entscheidungen bzw. die Regeln gesellschaftlichen Zusammenlebens zu beeinflussen – oder werden zumindest so legitimiert. Gemeinhin wird anerkannt, dass staatliche Institutionen ein Monopol auf Gewalt haben und diese dementsprechend auch einsetzen dürfen, um der Anwendung politischer Gewalt entgegenzutreten. Im Extremfall zielen aber eben diese Handlungen genau darauf ab, dieses Monopol zu hinterfragen und damit die bestehende politische Ordnung umzustürzen.

Im Folgenden fokussiert das vorliegende Fachdossier auf diese Ausformungen der Gewalt. Es darf dabei aber nicht aus den Augen verloren werden, dass auch andere Formen der Gewalt politisch sind.  Das betrifft häusliche Gewalt (zu diesem Thema siehe das Fachdossier „Wie soll häuslicher Gewalt vorgebeugt werden?“) genauso wie kriminelle Gewalt (z. B. gegen Journalist:innen). Um die unterschiedlichen Formen der Gewalt einordnen zu können, wird daher im folgenden Abschnitt ein kurzer Überblick über Definitionen politischer Gewalt gegeben.

Definitionen politischer Gewalt

Diverse wissenschaftliche Disziplinen, darunter Philosophie, Geschichtswissenschaft, Soziologie, Politikwissenschaft, Anthropologie, Friedens- und Konfliktforschung oder Gewaltforschung, bieten ein breites Spektrum an Gewaltdefinitionen an. Aufgrund der Vielzahl an unterschiedlichen Typologien ist es unmöglich, eine allgemeingültige Definition von politischer Gewalt zu geben.

Eine grundlegende Unterscheidung ist jene zwischen struktureller Gewalt auf der einen und konkreten Handlungen bzw. strategischem Handeln auf der anderen Seite. Strukturelle Gewalt bezeichnet Hierarchien, Machtverhältnisse und die ungleiche Verteilung von Ressourcen in der Gesellschaft, welche sich in ungleichen Lebenschancen sowie der Marginalisierung und Diskriminierung von bestimmten Gruppen oder Individuen niederschlagen. Ausformungen sind z. B. Rassismus, Sexismus, Nationalismus oder Altersdiskriminierung. Im Vergleich dazu scheinen konkrete Handlungen leichter greifbar. Dennoch stellen sich auch da u. a. folgende Fragen: Von was oder wem geht Gewalt aus? Wer ist davon in welcher Form betroffen? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Politik und Gewalt? Wie kann Gewalt begegnet werden – in Form von Prävention, Deeskalation, Legitimation oder Einhegung?

Zu den zentralen Überlegungen, welche die Diskussionen rund um Politik und Gewalt wesentlich beeinflusst haben, gehören dementsprechend Ausführungen zu struktureller Gewalt. Karl Marx schrieb diesbezüglich von der Gewalt des Eigentums, das in gesellschaftlichen Hierarchien eingeschrieben sei. Der Begriff Politische Gewalt selbst wurde von Johan Galtung 1975 in seinem Aufsatz Violence, Peace, and Peace Research entwickelt. Seine Überlegungen zur ungleichen Verteilung von Ressourcen und den entsprechend ungleichen Machtverhältnissen bedeuteten eine wesentliche Weiterentwicklung für die Friedens- und Konfliktforschung.

Einen weiteren grundlegenden Beitrag zu dieser Debatte leistete Heinrich Popitz. In seinen Studien zu Phänomenen der Macht (1986) beschreibt er Gewalt – in Form absichtlicher Körperverletzung – als Aktion zur Durchsetzung von Macht. Dabei muss nicht unbedingt die Verletzung selbst der Zweck sein, sondern es kann auch um eine dauerhafte Unterwerfung gehen.

Etwa zehn Jahre später rief Trutz von Trotha in seinem Buch Soziologie der Gewalt (1997) dazu auf, nicht mehr nur die Ursachen von Gewalt zu erforschen, sondern sich auch mit dem Vorgang der Gewaltausübung an sich, mitsamt seinen Folgen für die Betroffenen, zu beschäftigen.

Politische Gewalt in Österreich

Beschäftigt man sich mit der Ausübung politischer Gewalt in Österreich, liegt es nahe, sich mit der Geschichte der Ersten Republik auseinanderzusetzen. Damals wurde erstmals versucht, das staatliche Gewaltmonopol auf ein demokratisches Fundament zu stellen. Wie Ingo Zechner in seinem Beitrag Politische Gewalt herausarbeitet, scheiterte dieser Versuch an politisch motivierten gewalttätigen Konflikten vor allem zwischen den politischen Lagern der Christlichsozialen und der Sozialdemokraten. Gerhard Botz listet für die Zeit von 12. November 1918 bis 11. Februar 1934 insgesamt 242 Ereignisse auf, bei denen es aus innenpolitischen Motiven zu Todesopfern, Schwerverwundeten oder einer größeren Anzahl an Leichtverletzten gekommen ist.

Der Ansicht mancher Beobachter:innen, dass es in der Zweiten Republik in Österreich zu keiner Ausübung politischer Gewalt kam, kann leicht widersprochen werden. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit können diesbezüglich aufgelistet werden: rechtsextremistische Anschläge Anfang der 1960er; die Ermordung des Antifaschisten Ernst Kirchweger 1965, der als erstes Todesopfer politischer Gewalt in der Zweiten Republik bekannt wurde; Anschläge der Roten Armee Fraktion RAF Mitte der 1970er; Anschläge der Abu-Nidal-Organisation Anfang der 1980er; die Briefbomben- und Sprengstoffanschläge von Franz Fuchs in den 1990er-Jahren und der Terroranschlag in Wien am 2. November 2020. Außerdem kommt es regelmäßig zu rassistischen Übergriffen (siehe dazu die jährlich erscheinenden Rassismus-Reports der Organisation ZARA), antisemitischen Vorfällen (siehe dazu den Jahresbericht der Antisemitismus-Meldestelle der IKG Wien) und vermehrt zu Angriffen auf Mitglieder der LGBTIQ-Community.

Prävention und Bekämpfung politischer Gewalt

Auch wenn das Konzept der „politischen Gewalt“ in der österreichischen Rechtsordnung nicht explizit erwähnt wird, so werden Akte politischer Gewalt dennoch vom Strafrecht erfasst. Der 14. Abschnitt des Strafgesetzbuchs (StGB) regelt „Hochverrat und andere Angriffe gegen den Staat“, darunter etwa in § 247a StGB die Strafbarkeit der Betätigung in einer staatsfeindlichen Bewegung. Darüber hinaus zielen diverse Initiativen der Bundesregierung darauf ab, politischer Gewalt vorzubeugen und entgegenzuwirken. Als Beispiele gelten Entwicklungen im Bereich Staatsschutz und Nachrichtendienst (siehe z. B. die Reform des Verfassungsschutzes 2021), das Hass-im-Netz-Bekämpfungs-Gesetz oder Initiativen für Extremismusprävention des Bundeskanzleramts.

Nach aktuellem Stand der Forschung besteht allerdings Klärungsbedarf bzgl. des Verständnisses, woher politische Gewalt kommt, wie sie sich formiert und welche Gefahr von ihr ausgehen kann. Um die entsprechenden Debatten weiterzuentwickeln wäre es wichtig, sich mit Fragen wie den folgenden auseinanderzusetzen – und diese miteinander in Beziehung zu bringen:

  • Wie wird politische Gewalt legitimiert? Unter welchen Umständen wird politische Gewalt als legitim angesehen?
  • Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Mobilisierung von Wähler:innen und politisch motivierter Gewalt? Welchen Einfluss nehmen politische Auseinandersetzungen und die politische Rhetorik auf die Ausübung politischer Gewalt?
  • Wer hat die Möglichkeit(en), politische Gewalt auszuüben – und wer nicht? Welche Strategien und Gegenstrategien gibt es?
  • Wie wirken sich krisenhafte Situationen, wie die Covid-19-Pandemie, auf die (Bereitschaft zur) Anwendung politischer Gewalt aus?
  • Wie organisieren sich Akteur:innen, die bereit sind, politische Gewalt auszuüben? Welche Rolle spielen dabei das Internet, Social Media etc.?

Am Ende dieses Fachdossiers findet sich eine kleine Auswahl weiterführender wissenschaftlicher Quellen, die sich mit diesen Fragen beschäftigen.

Ein Beispiel, wie daraus Schlussfolgerungen für die politische Praxis gezogen werden können, lieferte die bereits erwähnte Kleinfeld in ihrer Aussage vor dem Sonderausschuss des US-Kongresses. Sie schlug den Mitgliedern des Kongresses vor, neben der direkten Bekämpfung von Gewalt mittels angepasster Strafen und Verboten v. a. für eine bessere finanzielle Ausstattung von demokratiebildenden Organisationen und Institutionen zu sorgen, extremistische Tendenzen in Strafverfolgungsbehörden strikt zu bekämpfen sowie einen politischen Pakt zur Reduktion gewaltvoller Rhetorik zwischen politischen Akteur:innen zu schließen.

Auswahl weiterführender wissenschaftlicher Quellen

Legitimation politischer Gewalt:

Politische Gewalt und Mobilisierung von Wähler:innen:

Strategien und Gegenstrategien politischer Gewalt:

  • Butler, The Force of Nonviolence (2021).
  • Lehner, Politische Gewalt als Möglichkeitserweiterung? Zwischen Tortenwurf und Terror: Überlegungen zu einer Hauntology politischer Gewalt (2019).

Covid-19 und politische Gewalt:

Internet und politische Gewalt: